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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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die alte Landtagswirthschaft fern zu halten. Gibt es einen Staat, welchem
Frieden noth thut, so ist es Oestreich. Und doch hängt dieses Glück bereits
von dem guten Willen eines feindlichen Nachbars ab, und dieser ist Rußland.

Was sich dort vollzieht, fordert Kritik und Sorge des ganzen eivilisirren
Europas heraus. Dort wird nicht nur den Polen, auch den Deutschen, dem¬
nächst ven Finnen das moskowitische Wesen durch Gewaltmittel aufgedrängt,
welche in einem Culturstaat unerhört sind und den Großmächten Europas
mit jedem Monat näher legen, daß es ihr solidarisches Interesse ist, gegen
solche Tyrannis übertünchter Barbarei Abwehr zu finden. Die Macht,
welche der Staat Peter des Großen unter Alexander II. erreicht hat, ist be¬
reits eine Gefahr für die abendländische Cultur geworden, der Trotz, mit wel¬
chem die Partei des jungen Rußland ihre Intriguen bis in das Herz von
Böhmen und an die Küsten Dalmatiens spinnt, und der harte Hochmuth, mit
dem sie ihre Grenznachbarn behandelt, drohen in kurzem eine große Zurück¬
weisung unvermeidlich zu machen. Oestreich und der Nordbund haben hier
gleiches Interesse und es ist dringend zu wünschen, daß die alte Gereiztheit
beider Großmächte einem aufrichtigen Einvernehmen weiche. Nicht ohne Mühe
wird durch die persönlichen Eigenschaften des Kaisers Alexander von Ruß-
land das gute Einvernehmen zwischen Petersburg und Berlin erhalten. Den
Großfürsten Thronfolger betrachtet man in Deutschland als einen eifrigen
Förderer der feindseligen moskowitischen Politik.

Während in den beiden katholischen Großstaaten die Regierungen allge¬
meine Abstimmungen und einen Appell an die Millionen der Wähler erstreben,
sehlt zu Rom bei den Abstimmungen der höchsten Kirchenfürsten allzusehr die
Freiheit, welche die moderne Civilisation von jedem Urwähler fordert. Die Po¬
lizei ist zu Rom argwöhnisch gegen Bischöfe geworden. Denn Herr v. Ketteler
schreibt gegen die Curie. Cardinal Rauscher und Cardinal Schwarzenberg sprechen
gegen die Curie, die Broschüre des Bischofs Hefele wird von der römischen
Post confiscire. Wer ein Jahr einsam im Eise des Nordmeers Wallrosse beobach¬
tet hätte und jetzt heimkehrte, er würde solche unerhörte Wandlung dem zuver¬
lässigsten Mann nicht glauben. Freilich, wenn daheim ein Curat des opponiren-
den Bischofs laut dasselbe behauptet, wofür der Bischof zu Rom stimmt, so wird
ihm vom bischöflichen Rath das Amt verboten! -- Unbehilflich vollzieht die
alte Kirche ihre Umwandlung aus einer Aristokratie in einen geistlichen Cä-
sarenstaat, und die Herren Rauscher und Ketteler haben nicht geringe Aehnlich-
keit mit Brutus und Cassius. nur daß sie nicht den Dolch in der Tasche
bergen, sondern Concepte untergebutterter, niedergeschriener, ausgetrommelter
Reden. Wenn erst Cäsar Pius ihren Widerstand niedergerunzelt hat und
durch das Most von 500 Pfaffen für unfehlbar erklärt ist. dann erst wird
sich zeigen, wie viel Stolz, Ehrgefühl, christliches Gewissen in den Fürsten
der deutschen Kirche zu finden ist.


?


Verantwortlicher Redacteur: Gustav Freytag.
Verlag von F. L. Hervig. -- Druck von Hiithel ä- Legler in Leipzig.

die alte Landtagswirthschaft fern zu halten. Gibt es einen Staat, welchem
Frieden noth thut, so ist es Oestreich. Und doch hängt dieses Glück bereits
von dem guten Willen eines feindlichen Nachbars ab, und dieser ist Rußland.

Was sich dort vollzieht, fordert Kritik und Sorge des ganzen eivilisirren
Europas heraus. Dort wird nicht nur den Polen, auch den Deutschen, dem¬
nächst ven Finnen das moskowitische Wesen durch Gewaltmittel aufgedrängt,
welche in einem Culturstaat unerhört sind und den Großmächten Europas
mit jedem Monat näher legen, daß es ihr solidarisches Interesse ist, gegen
solche Tyrannis übertünchter Barbarei Abwehr zu finden. Die Macht,
welche der Staat Peter des Großen unter Alexander II. erreicht hat, ist be¬
reits eine Gefahr für die abendländische Cultur geworden, der Trotz, mit wel¬
chem die Partei des jungen Rußland ihre Intriguen bis in das Herz von
Böhmen und an die Küsten Dalmatiens spinnt, und der harte Hochmuth, mit
dem sie ihre Grenznachbarn behandelt, drohen in kurzem eine große Zurück¬
weisung unvermeidlich zu machen. Oestreich und der Nordbund haben hier
gleiches Interesse und es ist dringend zu wünschen, daß die alte Gereiztheit
beider Großmächte einem aufrichtigen Einvernehmen weiche. Nicht ohne Mühe
wird durch die persönlichen Eigenschaften des Kaisers Alexander von Ruß-
land das gute Einvernehmen zwischen Petersburg und Berlin erhalten. Den
Großfürsten Thronfolger betrachtet man in Deutschland als einen eifrigen
Förderer der feindseligen moskowitischen Politik.

Während in den beiden katholischen Großstaaten die Regierungen allge¬
meine Abstimmungen und einen Appell an die Millionen der Wähler erstreben,
sehlt zu Rom bei den Abstimmungen der höchsten Kirchenfürsten allzusehr die
Freiheit, welche die moderne Civilisation von jedem Urwähler fordert. Die Po¬
lizei ist zu Rom argwöhnisch gegen Bischöfe geworden. Denn Herr v. Ketteler
schreibt gegen die Curie. Cardinal Rauscher und Cardinal Schwarzenberg sprechen
gegen die Curie, die Broschüre des Bischofs Hefele wird von der römischen
Post confiscire. Wer ein Jahr einsam im Eise des Nordmeers Wallrosse beobach¬
tet hätte und jetzt heimkehrte, er würde solche unerhörte Wandlung dem zuver¬
lässigsten Mann nicht glauben. Freilich, wenn daheim ein Curat des opponiren-
den Bischofs laut dasselbe behauptet, wofür der Bischof zu Rom stimmt, so wird
ihm vom bischöflichen Rath das Amt verboten! — Unbehilflich vollzieht die
alte Kirche ihre Umwandlung aus einer Aristokratie in einen geistlichen Cä-
sarenstaat, und die Herren Rauscher und Ketteler haben nicht geringe Aehnlich-
keit mit Brutus und Cassius. nur daß sie nicht den Dolch in der Tasche
bergen, sondern Concepte untergebutterter, niedergeschriener, ausgetrommelter
Reden. Wenn erst Cäsar Pius ihren Widerstand niedergerunzelt hat und
durch das Most von 500 Pfaffen für unfehlbar erklärt ist. dann erst wird
sich zeigen, wie viel Stolz, Ehrgefühl, christliches Gewissen in den Fürsten
der deutschen Kirche zu finden ist.


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Verantwortlicher Redacteur: Gustav Freytag.
Verlag von F. L. Hervig. — Druck von Hiithel ä- Legler in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/246>, abgerufen am 18.12.2024.