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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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hafter Friede möglich sei, darüber herrscht keine Meinungsverschiedenheit. --
Wir meinen, dieselbe Stimmung blieb auch im Jahrhundert der Reformation.
Auch damals, so oft die sociale Erregung unter Bauern und Widertäufern
das blutige Banner erhob, vereinigte sich sofort Alles, Anhänger der neuen
Lehre wie ihre Gegner, um zunächst jene drohende Bewegung niederzuschlagen.
Wer will ermessen, welchen Gang die Reformation Luther's gehabt hätte,
wenn sie gleich im ersten Anfange die Massen so wild aufgewühlt hätte, wie
dies der Hussitismus that?

Allerdings allmälig stellte sich unter den Hussiten eine nicht verächtliche
Ordnung her. und es ist kein Zweifel, daß die Schlesier in dem jahrelangen
obzwar meist feindseligen Verkehr mit den Hussiten, deren Schaaren sich
dauernd bei ihnen festsetzten, Gelegenheit genug hatten, auch den eigentlichen
dogmatischen Inhalt des Hussitismus näher kennen zu lernen und für die
Aeußerungen eines freieren Geistes, für das Reformatorische, Sympathien zu
finden.

Aber in keiner Weise thun sie das, und was sie abhält, ist neben der
Nachwirkung des ersten abschreckenden Eindrucks und neben der nationalen
Antipathie noch etwas Anderes. Denn um Alles zu sagen: das schlesische
Volk, selbst in den höheren Ständen, war damals noch nicht reif zur Ketzerei,
wenn wir mit diesem Worte die Selbstthätigkeit des Individuums bei Prü¬
fung des überlieferten Lehrbegriffs bezeichnen, im Gegensatze zum Autoritäts¬
glauben. Wollen wir die Reformation Luthers zum Vergleich heranziehen,
dürfen wir vor Allem nicht vergessen, welchen gewaltigen Schritt vorwärts
inzwischen die geistige Entwickelung unserer Nation gethan durch die Hu¬
manitätsstudien und die Erfindung der Buchdruckerkunst.

Nahe liegt hier der Einwurf: waren denn die Czechen, welche so ein-
müthig der Lehre ihres Reformators sich zuwandten, reifer, gebildeter? Ein
ganzes Volk verläßt so entschlossen den Glauben der Väter, um ungeschreckt
von dem furchtbaren Vorwurfe der Ketzerei einen neuen Weg des Heils zu
suchen! -- Es ist lehrreich, einen Augenblick dabei zu verweilen. Was dort
die Bewegung so gewaltig'gemacht hat. war freilich nicht eine größere Bil¬
dung, vielmehr der Umstand, daß die religiösen Impulse eine übermächtige Ver¬
stärkung erhielten durch nationale und sociale Momente.

Vor Allem durch nationale. Nach einer eifrig von den Herrschern be¬
günstigten germanisirenden Arbeit mehrerer Jahrhunderte war in Böhmen
die czechische Sprache allmälig zur Sprache des gemeinen Mannes herabgedrückt
worden; wie zahlreich auch die Vertreter dieser Nationalität namentlich auf
dem platten Lande sein mochten, und obwohl auch eine Anzahl von Adligen
über die Bevorzugung der deutschen Eindringlinge grollend an ihr festhielten,
das Deutsche herrschte doch am Hofe, in den Städten und in den höheren


hafter Friede möglich sei, darüber herrscht keine Meinungsverschiedenheit. —
Wir meinen, dieselbe Stimmung blieb auch im Jahrhundert der Reformation.
Auch damals, so oft die sociale Erregung unter Bauern und Widertäufern
das blutige Banner erhob, vereinigte sich sofort Alles, Anhänger der neuen
Lehre wie ihre Gegner, um zunächst jene drohende Bewegung niederzuschlagen.
Wer will ermessen, welchen Gang die Reformation Luther's gehabt hätte,
wenn sie gleich im ersten Anfange die Massen so wild aufgewühlt hätte, wie
dies der Hussitismus that?

Allerdings allmälig stellte sich unter den Hussiten eine nicht verächtliche
Ordnung her. und es ist kein Zweifel, daß die Schlesier in dem jahrelangen
obzwar meist feindseligen Verkehr mit den Hussiten, deren Schaaren sich
dauernd bei ihnen festsetzten, Gelegenheit genug hatten, auch den eigentlichen
dogmatischen Inhalt des Hussitismus näher kennen zu lernen und für die
Aeußerungen eines freieren Geistes, für das Reformatorische, Sympathien zu
finden.

Aber in keiner Weise thun sie das, und was sie abhält, ist neben der
Nachwirkung des ersten abschreckenden Eindrucks und neben der nationalen
Antipathie noch etwas Anderes. Denn um Alles zu sagen: das schlesische
Volk, selbst in den höheren Ständen, war damals noch nicht reif zur Ketzerei,
wenn wir mit diesem Worte die Selbstthätigkeit des Individuums bei Prü¬
fung des überlieferten Lehrbegriffs bezeichnen, im Gegensatze zum Autoritäts¬
glauben. Wollen wir die Reformation Luthers zum Vergleich heranziehen,
dürfen wir vor Allem nicht vergessen, welchen gewaltigen Schritt vorwärts
inzwischen die geistige Entwickelung unserer Nation gethan durch die Hu¬
manitätsstudien und die Erfindung der Buchdruckerkunst.

Nahe liegt hier der Einwurf: waren denn die Czechen, welche so ein-
müthig der Lehre ihres Reformators sich zuwandten, reifer, gebildeter? Ein
ganzes Volk verläßt so entschlossen den Glauben der Väter, um ungeschreckt
von dem furchtbaren Vorwurfe der Ketzerei einen neuen Weg des Heils zu
suchen! — Es ist lehrreich, einen Augenblick dabei zu verweilen. Was dort
die Bewegung so gewaltig'gemacht hat. war freilich nicht eine größere Bil¬
dung, vielmehr der Umstand, daß die religiösen Impulse eine übermächtige Ver¬
stärkung erhielten durch nationale und sociale Momente.

Vor Allem durch nationale. Nach einer eifrig von den Herrschern be¬
günstigten germanisirenden Arbeit mehrerer Jahrhunderte war in Böhmen
die czechische Sprache allmälig zur Sprache des gemeinen Mannes herabgedrückt
worden; wie zahlreich auch die Vertreter dieser Nationalität namentlich auf
dem platten Lande sein mochten, und obwohl auch eine Anzahl von Adligen
über die Bevorzugung der deutschen Eindringlinge grollend an ihr festhielten,
das Deutsche herrschte doch am Hofe, in den Städten und in den höheren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/219>, abgerufen am 27.07.2024.