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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Staats den schwerbedrängten Stammesgenossen auch nur eine nachdrückliche
moralische Unterstützung zu Theil werden zu lassen. erscheint die Leichtfertig¬
keit, mit welcher hervorragende Organe der deutschen Presse sich zu Liebes¬
diensten sür die russische Bureaukratie hergeben, besonders unverantwortlich.

In den Ostseeprovinzen selbst ist man fest entschlossen, bis aufs Aeußerste
Widerstand zu leisten und sich nicht entmuthigen zu lassen. Das nachstehende,
uns von kundiger und einflußreicher Seite zugegangene Schreiben ist in dieser
Beziehung instruktiv:

Das Ereigniß der letzten Wochen war die Adresse der livländischen
Ritterschaft an Se. Majestät den Kaiser und die kaiserliche Antwort auf die
Adresse. -- Die Ritterschaft hatte um Wiederherstellung der Verfassung Liv-
lands gebeten und auf die unleugbare Thatsache hingewiesen, daß durch Auf¬
hebung der Glaubensfreiheit, durch zwangsweise Einführung der russischen
Sprache in einen Theil der Landesbehörden und neuerdings in die Schul¬
verwaltungen, sowie durch verfassungswidrige Ausdehnung der Reichsgesetze
auf die Provinz das Landesrecht in den wesentlichsten Punkten verletzt worden
sei. Die von der Ritterschaft erwählten Delegirten, welche die Adresse zu
erläutern beauftragt waren, wurden nicht einberufen; dagegen ertheilte Seine
Majestät die Antwort: "da sowohl die allgemeinen als auch die provinziellen
Gesetze ihre Kraft nur von der selbstherrschenden Gewalt entnehmen, so ist
die lip. Ritterschaft mit den in ihrem Gesuch enthaltenen Bitten entschieden
zurückzuweisen, um so mehr, als diese Bitten auch mit der Einleitung zum
Provinzial-Coder nicht stimmen."

Bisher hat, so viel uns bekannt geworden, nur Eine russische Zeitung
die kaiserliche Antwort commentirt, während die meisten großen Blätter die
Adresse mit entsprechenden Leitartikeln begleiteten. Von Verständniß für die
Lage der Provinzen legt dabei nur Ein Blatt Zeugniß ab, die Westj.
Dennoch wünscht auch sie zum Schluß, daß der Ritterschaft für die Adresse
eine Rüge ertheilt werde. Die Most. Zeitung und der Golos scheinen
aber außerordentlich geringes Wohlgefallen an der Adresse gefunden zu haben.
Sie war ihnen nicht empörerisch und landesverrätherlich genug. So spien
sie ihr ins Angesicht, ballten die Fäuste, gaben Rufe des Entsetzens von sich
und sagten im Grunde nichts.

Endlich erschien die kaiserliche Antwort. Und nun wußte der Golos vor
Freude kaum Worte zu finden. Denn seiner Auffassung nach hat das kaiser¬
liche Wort das Recht der Provinzen principiell durch Betonung der souve¬
ränen Gewalt aufgehoben. Der Golos begrüßt offenbar in der Erklärung
des Kaisers einen Freibrief zu Gewaltthaten gegen die Provinzen im Namen
"des Gesetzes" und "im Wege der Verwaltung". Im Namen des russischen
Volks jubelt er, daß die baltischen Deutschen mit Allem, was ihnen theuer


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Staats den schwerbedrängten Stammesgenossen auch nur eine nachdrückliche
moralische Unterstützung zu Theil werden zu lassen. erscheint die Leichtfertig¬
keit, mit welcher hervorragende Organe der deutschen Presse sich zu Liebes¬
diensten sür die russische Bureaukratie hergeben, besonders unverantwortlich.

In den Ostseeprovinzen selbst ist man fest entschlossen, bis aufs Aeußerste
Widerstand zu leisten und sich nicht entmuthigen zu lassen. Das nachstehende,
uns von kundiger und einflußreicher Seite zugegangene Schreiben ist in dieser
Beziehung instruktiv:

Das Ereigniß der letzten Wochen war die Adresse der livländischen
Ritterschaft an Se. Majestät den Kaiser und die kaiserliche Antwort auf die
Adresse. — Die Ritterschaft hatte um Wiederherstellung der Verfassung Liv-
lands gebeten und auf die unleugbare Thatsache hingewiesen, daß durch Auf¬
hebung der Glaubensfreiheit, durch zwangsweise Einführung der russischen
Sprache in einen Theil der Landesbehörden und neuerdings in die Schul¬
verwaltungen, sowie durch verfassungswidrige Ausdehnung der Reichsgesetze
auf die Provinz das Landesrecht in den wesentlichsten Punkten verletzt worden
sei. Die von der Ritterschaft erwählten Delegirten, welche die Adresse zu
erläutern beauftragt waren, wurden nicht einberufen; dagegen ertheilte Seine
Majestät die Antwort: „da sowohl die allgemeinen als auch die provinziellen
Gesetze ihre Kraft nur von der selbstherrschenden Gewalt entnehmen, so ist
die lip. Ritterschaft mit den in ihrem Gesuch enthaltenen Bitten entschieden
zurückzuweisen, um so mehr, als diese Bitten auch mit der Einleitung zum
Provinzial-Coder nicht stimmen."

Bisher hat, so viel uns bekannt geworden, nur Eine russische Zeitung
die kaiserliche Antwort commentirt, während die meisten großen Blätter die
Adresse mit entsprechenden Leitartikeln begleiteten. Von Verständniß für die
Lage der Provinzen legt dabei nur Ein Blatt Zeugniß ab, die Westj.
Dennoch wünscht auch sie zum Schluß, daß der Ritterschaft für die Adresse
eine Rüge ertheilt werde. Die Most. Zeitung und der Golos scheinen
aber außerordentlich geringes Wohlgefallen an der Adresse gefunden zu haben.
Sie war ihnen nicht empörerisch und landesverrätherlich genug. So spien
sie ihr ins Angesicht, ballten die Fäuste, gaben Rufe des Entsetzens von sich
und sagten im Grunde nichts.

Endlich erschien die kaiserliche Antwort. Und nun wußte der Golos vor
Freude kaum Worte zu finden. Denn seiner Auffassung nach hat das kaiser¬
liche Wort das Recht der Provinzen principiell durch Betonung der souve¬
ränen Gewalt aufgehoben. Der Golos begrüßt offenbar in der Erklärung
des Kaisers einen Freibrief zu Gewaltthaten gegen die Provinzen im Namen
„des Gesetzes" und „im Wege der Verwaltung". Im Namen des russischen
Volks jubelt er, daß die baltischen Deutschen mit Allem, was ihnen theuer


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[0201] Staats den schwerbedrängten Stammesgenossen auch nur eine nachdrückliche moralische Unterstützung zu Theil werden zu lassen. erscheint die Leichtfertig¬ keit, mit welcher hervorragende Organe der deutschen Presse sich zu Liebes¬ diensten sür die russische Bureaukratie hergeben, besonders unverantwortlich. In den Ostseeprovinzen selbst ist man fest entschlossen, bis aufs Aeußerste Widerstand zu leisten und sich nicht entmuthigen zu lassen. Das nachstehende, uns von kundiger und einflußreicher Seite zugegangene Schreiben ist in dieser Beziehung instruktiv: Das Ereigniß der letzten Wochen war die Adresse der livländischen Ritterschaft an Se. Majestät den Kaiser und die kaiserliche Antwort auf die Adresse. — Die Ritterschaft hatte um Wiederherstellung der Verfassung Liv- lands gebeten und auf die unleugbare Thatsache hingewiesen, daß durch Auf¬ hebung der Glaubensfreiheit, durch zwangsweise Einführung der russischen Sprache in einen Theil der Landesbehörden und neuerdings in die Schul¬ verwaltungen, sowie durch verfassungswidrige Ausdehnung der Reichsgesetze auf die Provinz das Landesrecht in den wesentlichsten Punkten verletzt worden sei. Die von der Ritterschaft erwählten Delegirten, welche die Adresse zu erläutern beauftragt waren, wurden nicht einberufen; dagegen ertheilte Seine Majestät die Antwort: „da sowohl die allgemeinen als auch die provinziellen Gesetze ihre Kraft nur von der selbstherrschenden Gewalt entnehmen, so ist die lip. Ritterschaft mit den in ihrem Gesuch enthaltenen Bitten entschieden zurückzuweisen, um so mehr, als diese Bitten auch mit der Einleitung zum Provinzial-Coder nicht stimmen." Bisher hat, so viel uns bekannt geworden, nur Eine russische Zeitung die kaiserliche Antwort commentirt, während die meisten großen Blätter die Adresse mit entsprechenden Leitartikeln begleiteten. Von Verständniß für die Lage der Provinzen legt dabei nur Ein Blatt Zeugniß ab, die Westj. Dennoch wünscht auch sie zum Schluß, daß der Ritterschaft für die Adresse eine Rüge ertheilt werde. Die Most. Zeitung und der Golos scheinen aber außerordentlich geringes Wohlgefallen an der Adresse gefunden zu haben. Sie war ihnen nicht empörerisch und landesverrätherlich genug. So spien sie ihr ins Angesicht, ballten die Fäuste, gaben Rufe des Entsetzens von sich und sagten im Grunde nichts. Endlich erschien die kaiserliche Antwort. Und nun wußte der Golos vor Freude kaum Worte zu finden. Denn seiner Auffassung nach hat das kaiser¬ liche Wort das Recht der Provinzen principiell durch Betonung der souve¬ ränen Gewalt aufgehoben. Der Golos begrüßt offenbar in der Erklärung des Kaisers einen Freibrief zu Gewaltthaten gegen die Provinzen im Namen „des Gesetzes" und „im Wege der Verwaltung". Im Namen des russischen Volks jubelt er, daß die baltischen Deutschen mit Allem, was ihnen theuer 25*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/201>, abgerufen am 27.07.2024.