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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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worden ist, wird der Mehrzahl unserer Leser bekannt sein. Wie es heißt
ist ziemlich gleichzeitig mit der livländischen eine estländische Adresse nach
Petersburg abgegangen und nur die kurländische Ritterschaft hat sich durch
die Barschheit der kaiserlichen Antwort von einem neuen Versuch, ihr gutes
Recht geltend zu machen, abschrecken lassen. Die Rusfificationsarbeit der
Moskaner Demokratie hat somit alle Aussicht, ihre Minirerthätigkeit noch
ungestörter als bisher fortzusetzen. Was hie und da von kaiserlichen Wün¬
schen für Mäßigung des nationalen Eifers und Schonung der betheiligten
Personen, von Klagen über die schädlichen Einflüsse der Moskaner Zeitung
und anderer "vorgeschrittener Organe" verlautet, hat nur den Sinn, unnützes
Aussehen zu vermeiden und die Dehors "liberaler Absichten" zu wahren.

An diesen "Dihors" ist der Petersburger Regierung um so mehr ge¬
legen, als sie mit Hilfe derselben hoffen darf, die öffentliche Meinung Deutsch¬
lands über den Sachverhalt zu täuschen und die rusfifieatorischen Absichten,
die in den Ostseeprovinzen verfolgt werden, durch liberale Phrasen zu mas-
kiren. Daß diese Rechnung keine ganz falsche ist, erscheint nach dem bis-
herigen Verhalten eines Theils der deutschen Presse leider zweifellos. Binnen
kurzer Frist haben wir erleben müssen, daß zwei einflußreiche Berliner Blätter,
die Kreuzzeitung und die Natianalzeitung bereitwillig in die Petersburger Falle
gingen und ihre Spalten Leuten öffneten, welche allen Ernstes behaupteten,
die "liberale" russische Regierung sei in ihrem guten Recht, wenn sie den
Liv-, Est- und Kurländern ihr Recht, ihre Sprache und Verfassung nehme
und in in^orsm Russiae Aloriam büreaukratische Ordnungen octroyire.
Die in einer der letzten Nummern der Nationalzeitung veröffentlichte Cor-
respondenz eines "liberalen" Deutschen, der seit zwanzig Jahren in Peters¬
burg lebt und die Nationalzeitung liest, zeichnet sich durch ganz besondere
Plattheit und Unwissenheit aus; was in moskowitischen Zeitungen seit Jah¬
ren täglich und sehr viel besser und energischer gesagt worden, wird hier
gedankenlos wiedergekäut.

Wem das Rotteck-Welckersche Staatslexicon der Inbegriff politischer
Weisheit ist, dem mag zweifellos sein, daß z. B. die Überwachung des Volks¬
schulwesens in den Ostseeprovinzen dem Staat und nicht der Kirche zusteht,
oder daß die russische Provinzialverfassung liberaler ist, als die livländische.
Aber schon die oberflächlichste Bekanntschaft mit den thatsächlichen Verhält¬
nissen sagt uns, daß staatliche Leitung des baltischen Volksschulwesens und
Russification der Kirche und Schule ebenso gleichbedeutend sind, wie russische
Provinzialverfasfung und schrankenlose Herrschaft einer Bureaukratie, die ihre
Hauptaufgabe darin sieht, im Bunde mit den ungebildeten Massen die Frei-
heits- und Bildungsforderungen der gebildeten Classen niederzuhalten. Angesichts
der zur Zeit obwaltenden Unmöglichkeit, von Seiten des neuen deutschen


worden ist, wird der Mehrzahl unserer Leser bekannt sein. Wie es heißt
ist ziemlich gleichzeitig mit der livländischen eine estländische Adresse nach
Petersburg abgegangen und nur die kurländische Ritterschaft hat sich durch
die Barschheit der kaiserlichen Antwort von einem neuen Versuch, ihr gutes
Recht geltend zu machen, abschrecken lassen. Die Rusfificationsarbeit der
Moskaner Demokratie hat somit alle Aussicht, ihre Minirerthätigkeit noch
ungestörter als bisher fortzusetzen. Was hie und da von kaiserlichen Wün¬
schen für Mäßigung des nationalen Eifers und Schonung der betheiligten
Personen, von Klagen über die schädlichen Einflüsse der Moskaner Zeitung
und anderer „vorgeschrittener Organe" verlautet, hat nur den Sinn, unnützes
Aussehen zu vermeiden und die Dehors „liberaler Absichten" zu wahren.

An diesen „Dihors" ist der Petersburger Regierung um so mehr ge¬
legen, als sie mit Hilfe derselben hoffen darf, die öffentliche Meinung Deutsch¬
lands über den Sachverhalt zu täuschen und die rusfifieatorischen Absichten,
die in den Ostseeprovinzen verfolgt werden, durch liberale Phrasen zu mas-
kiren. Daß diese Rechnung keine ganz falsche ist, erscheint nach dem bis-
herigen Verhalten eines Theils der deutschen Presse leider zweifellos. Binnen
kurzer Frist haben wir erleben müssen, daß zwei einflußreiche Berliner Blätter,
die Kreuzzeitung und die Natianalzeitung bereitwillig in die Petersburger Falle
gingen und ihre Spalten Leuten öffneten, welche allen Ernstes behaupteten,
die „liberale" russische Regierung sei in ihrem guten Recht, wenn sie den
Liv-, Est- und Kurländern ihr Recht, ihre Sprache und Verfassung nehme
und in in^orsm Russiae Aloriam büreaukratische Ordnungen octroyire.
Die in einer der letzten Nummern der Nationalzeitung veröffentlichte Cor-
respondenz eines „liberalen" Deutschen, der seit zwanzig Jahren in Peters¬
burg lebt und die Nationalzeitung liest, zeichnet sich durch ganz besondere
Plattheit und Unwissenheit aus; was in moskowitischen Zeitungen seit Jah¬
ren täglich und sehr viel besser und energischer gesagt worden, wird hier
gedankenlos wiedergekäut.

Wem das Rotteck-Welckersche Staatslexicon der Inbegriff politischer
Weisheit ist, dem mag zweifellos sein, daß z. B. die Überwachung des Volks¬
schulwesens in den Ostseeprovinzen dem Staat und nicht der Kirche zusteht,
oder daß die russische Provinzialverfassung liberaler ist, als die livländische.
Aber schon die oberflächlichste Bekanntschaft mit den thatsächlichen Verhält¬
nissen sagt uns, daß staatliche Leitung des baltischen Volksschulwesens und
Russification der Kirche und Schule ebenso gleichbedeutend sind, wie russische
Provinzialverfasfung und schrankenlose Herrschaft einer Bureaukratie, die ihre
Hauptaufgabe darin sieht, im Bunde mit den ungebildeten Massen die Frei-
heits- und Bildungsforderungen der gebildeten Classen niederzuhalten. Angesichts
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/200>, abgerufen am 18.12.2024.