Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.Kritik sagen: Ich bin so oft über Verdienst gelobt worden, daß ich mir wohl M. H. Leipzig, den 3. Juli 1862. Lieber Wehner! Eine liebe Nachricht wars uns, die wir vom Onkel Robben aus Rom Es fehlt für uns den vor- Bach- und Händel'schen Sachen etwas, im All¬ Kritik sagen: Ich bin so oft über Verdienst gelobt worden, daß ich mir wohl M. H. Leipzig, den 3. Juli 1862. Lieber Wehner! Eine liebe Nachricht wars uns, die wir vom Onkel Robben aus Rom Es fehlt für uns den vor- Bach- und Händel'schen Sachen etwas, im All¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0157" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123777"/> <p xml:id="ID_465" prev="#ID_464"> Kritik sagen: Ich bin so oft über Verdienst gelobt worden, daß ich mir wohl<lb/> auch einmal einen unverdienten Tadel kann gefallen lassen. Das ist gar sehr<lb/> liebenswürdig..............5</p><lb/> <note type="bibl"> M. H.</note><lb/> <p xml:id="ID_466"> Leipzig, den 3. Juli 1862.</p><lb/> <note type="salute"> Lieber Wehner!</note><lb/> <p xml:id="ID_467"> Eine liebe Nachricht wars uns, die wir vom Onkel Robben aus Rom<lb/> erhielten, daß Sie dort angekommen waren und sich hübsch dort aufhalten<lb/> konnten und noch dazu in der musikalisch interessanten Osterzeit. Wie der<lb/> Sixtinengesang gegenwärtig ist, weiß ich nicht — er war auch vor 30 Jahren,<lb/> da ich ihn hörte, aber nicht zur Oster- nur zur Weihnachts- und tutti SÄvti-,<lb/> tutte le anime- und well xreti-Zeit (im November) — er war auch damals<lb/> nicht so wie man ihn in den Beschreibungen findet, vielmehr ganz anders:<lb/> von engelhaften oder aeolsharfenarrigen Klängen keine Spur, vielmehr ein<lb/> recht derber, manchmal etwas massiver Bortrag, nicht Zimmer vom schönsten<lb/> Klang; aber von sicheren Sängern vorgetragen. Ich hatte meine Freude<lb/> daran und konnte in die Geringschätzung meiner Begleiter, A. A. Klengels<lb/> und Iwan Müllers (der sich auf seinen Composittonen: „Verfasser der ver¬<lb/> besserten Clarinette" nannte) durchaus nicht einstimmen, die ebenso über die<lb/> Musik wie über den Vortrag sich enttäuscht fanden. Ich fands auch anders<lb/> als ichs damals erwartet hatte, aber fand doch auch etwas, was man schätzen<lb/> und sich gefallen lassen konnte. Die Helena will dem Hoftheater-Publicum<lb/> im zweiten Theil des Faust auch nicht behagen, die wirkliche echte griechische<lb/> Helena, die der Faust heraufbeschworen hat: sie ist ihnen zu derb, nicht zier¬<lb/> lich, nicht graziös genug, sie ist ihnen nicht schön, weil sie anders ist, als<lb/> sie sich gedacht haben; dafür kann aber die Helena nichts, und die Sixtina<lb/> nichts, daß die Herren etwas anderes erwartet haben. Was sich und seinen<lb/> Ruf durch Jahrhunderte gut zu erhalten vermocht, hat wenigstes ebenso viel<lb/> Recht da zu sein, als ich mit meinen Ohren. Goethe meint, man solle das<lb/> Alte studiren; daß sichs erhalten, sei Zeuge seines Gehaltes. N. Schumann<lb/> meint freilich wieder anders, der sagt, man solle nicht bei dem Alten anfangen,<lb/> sondern das Neueste zum Vorbild nehmen, weil da alles Vorangegangene<lb/> ja nothwendig schon darin enthalten sein müsse.</p><lb/> <p xml:id="ID_468" next="#ID_469"> Es fehlt für uns den vor- Bach- und Händel'schen Sachen etwas, im All¬<lb/> gemeinen und Ganzen genommen, das sie uns nicht ganz und voll befriedigt<lb/> genießen läßt; es ist die architektonische Form und die wesentliche Dissonanz,<lb/> der Septimenaccord. Auf den Grund gegangen würde das Beides sich corre-<lb/> lativ zeigen — die Dissonanz der alten Musik ist allein der Vorhalt, bei<lb/> welchem die Consonanz wesentlich fortbesteht; er löst sich auf, ohne die Grund-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0157]
Kritik sagen: Ich bin so oft über Verdienst gelobt worden, daß ich mir wohl
auch einmal einen unverdienten Tadel kann gefallen lassen. Das ist gar sehr
liebenswürdig..............5
M. H.
Leipzig, den 3. Juli 1862.
Lieber Wehner!
Eine liebe Nachricht wars uns, die wir vom Onkel Robben aus Rom
erhielten, daß Sie dort angekommen waren und sich hübsch dort aufhalten
konnten und noch dazu in der musikalisch interessanten Osterzeit. Wie der
Sixtinengesang gegenwärtig ist, weiß ich nicht — er war auch vor 30 Jahren,
da ich ihn hörte, aber nicht zur Oster- nur zur Weihnachts- und tutti SÄvti-,
tutte le anime- und well xreti-Zeit (im November) — er war auch damals
nicht so wie man ihn in den Beschreibungen findet, vielmehr ganz anders:
von engelhaften oder aeolsharfenarrigen Klängen keine Spur, vielmehr ein
recht derber, manchmal etwas massiver Bortrag, nicht Zimmer vom schönsten
Klang; aber von sicheren Sängern vorgetragen. Ich hatte meine Freude
daran und konnte in die Geringschätzung meiner Begleiter, A. A. Klengels
und Iwan Müllers (der sich auf seinen Composittonen: „Verfasser der ver¬
besserten Clarinette" nannte) durchaus nicht einstimmen, die ebenso über die
Musik wie über den Vortrag sich enttäuscht fanden. Ich fands auch anders
als ichs damals erwartet hatte, aber fand doch auch etwas, was man schätzen
und sich gefallen lassen konnte. Die Helena will dem Hoftheater-Publicum
im zweiten Theil des Faust auch nicht behagen, die wirkliche echte griechische
Helena, die der Faust heraufbeschworen hat: sie ist ihnen zu derb, nicht zier¬
lich, nicht graziös genug, sie ist ihnen nicht schön, weil sie anders ist, als
sie sich gedacht haben; dafür kann aber die Helena nichts, und die Sixtina
nichts, daß die Herren etwas anderes erwartet haben. Was sich und seinen
Ruf durch Jahrhunderte gut zu erhalten vermocht, hat wenigstes ebenso viel
Recht da zu sein, als ich mit meinen Ohren. Goethe meint, man solle das
Alte studiren; daß sichs erhalten, sei Zeuge seines Gehaltes. N. Schumann
meint freilich wieder anders, der sagt, man solle nicht bei dem Alten anfangen,
sondern das Neueste zum Vorbild nehmen, weil da alles Vorangegangene
ja nothwendig schon darin enthalten sein müsse.
Es fehlt für uns den vor- Bach- und Händel'schen Sachen etwas, im All¬
gemeinen und Ganzen genommen, das sie uns nicht ganz und voll befriedigt
genießen läßt; es ist die architektonische Form und die wesentliche Dissonanz,
der Septimenaccord. Auf den Grund gegangen würde das Beides sich corre-
lativ zeigen — die Dissonanz der alten Musik ist allein der Vorhalt, bei
welchem die Consonanz wesentlich fortbesteht; er löst sich auf, ohne die Grund-
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