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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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rung der Interessen und der Bildung gibt sogar der Hader der Nationali¬
täten, verglichen mit den Zuständen des Jahres 1848 einige Bürgschaft. Da¬
mals waren die Menschen in Oestreich ganz in mittelalterlicher Weise schnell
bereit, für ihre undeutlichen Ideale zu den Waffen zu greifen. Sie lebten
isolirter und hatten weniger zu verlieren und ein viel geringeres Verständ¬
niß von der Bedeutung ihres Staates. Jetzt ist solche Behendigkeit nur
noch in den wildesten Grenzgegenden zu finden. Die gesammte politische
Agitation, wie abgeneigt immer der Centralregierung, sucht vorsichtig und
mit einer gewissen Scheu vor dem Gesetz die vorhandenen erlaubten Agita¬
tionsmittel zu verwerthen. Sie ist deshalb vielleicht nicht weniger gefährlich,
aber es sind doch geistige Factoren, mit denen sie rechnet, und der Kampf
wird mit der Feder und in Debatten geführt, da ist doch einige Hoffnung,
daß zuletzt auch die Wucht der realen Interessen sich geltend machen wird.

So schwebt der Kaiserstaat zwischen den merkwürdigsten, sonst unverein¬
barer Gegensätzen. Auf der einen Seite Verfall, Auflösung, ein Aus¬
einanderstreben der Theile, bei der großen Mehrzahl der Bevölkerung völliger
Mangel an Wärme, ja unverhüllte Abneigung gegen die alte Staatsidee,
auf der anderen Seite dagegen eine großartige Entfaltung der productiven
Staatskrast, Steigerung des Wohlstandes, der Industrie, ja auch der socialen
Bildung in den Individuen. Die Steuern werden gezahlt, die Soldaten aus-
exercirt, das Einströmen deutscher Intelligenz dauert unablässig fort. Wollen
wir demnach diesen Zustand Oestreichs in einer Formel ausdrücken, welche
nicht die ganze Sachlage, aber den Hauptpunkt definirt, so erscheint Fol¬
gendes als Resultat der letzten Vergangenheit: die alte Idee, weichte den Staat
zusammenhielt, das Hausinteresse der kaiserlichen Familie Habsburg-Lothringen
hat mit reißender Schnelligkeit die Bedeutung verloren, aber an Stelle des
alten Bandes tritt eine andere verbindende Gewalt, die Gemeinsamkeit der
wichtigsten realen Interessen, deren Centrum die Hauptstadt Wien geworden
ist. Nicht mehr die Hofburg ist der festeste Mittelpunkt des östreichischen Staa-
tes, sondern die Stadt Wien selbst ist es, mit den neuen Straßen auf dem
bebauten Glacis, mit ihren Capitalien, ihrer starken Production, der An¬
ziehungskraft und geistigen Einwirkung, welche sie über das ganze Donau¬
thal ausübt. Aber die alte Einheit ist im Untergang und die neue ist erst
im Werden und sie ist noch lange nicht stark genug, um überall ihre An¬
sprüche gegenüber den Nationalitätswünschen siegreich zu machen.

Das ist in Wahrheit die Gefahr Oestreichs; ob sie durch neue Ein-
bußen an Landgebiet, ob sie überhaupt unter den Auspreisn des kaiserlichen
Hauses bewältigt werden kann, das hängt zum Theil von unübersehbaren
Conflicten der europäischen Politik ab; zum größten Theil aber von den
Maßregeln der kaiserlichen Regierung. Die Zweitheiligkeit des Reiches ist
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rung der Interessen und der Bildung gibt sogar der Hader der Nationali¬
täten, verglichen mit den Zuständen des Jahres 1848 einige Bürgschaft. Da¬
mals waren die Menschen in Oestreich ganz in mittelalterlicher Weise schnell
bereit, für ihre undeutlichen Ideale zu den Waffen zu greifen. Sie lebten
isolirter und hatten weniger zu verlieren und ein viel geringeres Verständ¬
niß von der Bedeutung ihres Staates. Jetzt ist solche Behendigkeit nur
noch in den wildesten Grenzgegenden zu finden. Die gesammte politische
Agitation, wie abgeneigt immer der Centralregierung, sucht vorsichtig und
mit einer gewissen Scheu vor dem Gesetz die vorhandenen erlaubten Agita¬
tionsmittel zu verwerthen. Sie ist deshalb vielleicht nicht weniger gefährlich,
aber es sind doch geistige Factoren, mit denen sie rechnet, und der Kampf
wird mit der Feder und in Debatten geführt, da ist doch einige Hoffnung,
daß zuletzt auch die Wucht der realen Interessen sich geltend machen wird.

So schwebt der Kaiserstaat zwischen den merkwürdigsten, sonst unverein¬
barer Gegensätzen. Auf der einen Seite Verfall, Auflösung, ein Aus¬
einanderstreben der Theile, bei der großen Mehrzahl der Bevölkerung völliger
Mangel an Wärme, ja unverhüllte Abneigung gegen die alte Staatsidee,
auf der anderen Seite dagegen eine großartige Entfaltung der productiven
Staatskrast, Steigerung des Wohlstandes, der Industrie, ja auch der socialen
Bildung in den Individuen. Die Steuern werden gezahlt, die Soldaten aus-
exercirt, das Einströmen deutscher Intelligenz dauert unablässig fort. Wollen
wir demnach diesen Zustand Oestreichs in einer Formel ausdrücken, welche
nicht die ganze Sachlage, aber den Hauptpunkt definirt, so erscheint Fol¬
gendes als Resultat der letzten Vergangenheit: die alte Idee, weichte den Staat
zusammenhielt, das Hausinteresse der kaiserlichen Familie Habsburg-Lothringen
hat mit reißender Schnelligkeit die Bedeutung verloren, aber an Stelle des
alten Bandes tritt eine andere verbindende Gewalt, die Gemeinsamkeit der
wichtigsten realen Interessen, deren Centrum die Hauptstadt Wien geworden
ist. Nicht mehr die Hofburg ist der festeste Mittelpunkt des östreichischen Staa-
tes, sondern die Stadt Wien selbst ist es, mit den neuen Straßen auf dem
bebauten Glacis, mit ihren Capitalien, ihrer starken Production, der An¬
ziehungskraft und geistigen Einwirkung, welche sie über das ganze Donau¬
thal ausübt. Aber die alte Einheit ist im Untergang und die neue ist erst
im Werden und sie ist noch lange nicht stark genug, um überall ihre An¬
sprüche gegenüber den Nationalitätswünschen siegreich zu machen.

Das ist in Wahrheit die Gefahr Oestreichs; ob sie durch neue Ein-
bußen an Landgebiet, ob sie überhaupt unter den Auspreisn des kaiserlichen
Hauses bewältigt werden kann, das hängt zum Theil von unübersehbaren
Conflicten der europäischen Politik ab; zum größten Theil aber von den
Maßregeln der kaiserlichen Regierung. Die Zweitheiligkeit des Reiches ist
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[0129] rung der Interessen und der Bildung gibt sogar der Hader der Nationali¬ täten, verglichen mit den Zuständen des Jahres 1848 einige Bürgschaft. Da¬ mals waren die Menschen in Oestreich ganz in mittelalterlicher Weise schnell bereit, für ihre undeutlichen Ideale zu den Waffen zu greifen. Sie lebten isolirter und hatten weniger zu verlieren und ein viel geringeres Verständ¬ niß von der Bedeutung ihres Staates. Jetzt ist solche Behendigkeit nur noch in den wildesten Grenzgegenden zu finden. Die gesammte politische Agitation, wie abgeneigt immer der Centralregierung, sucht vorsichtig und mit einer gewissen Scheu vor dem Gesetz die vorhandenen erlaubten Agita¬ tionsmittel zu verwerthen. Sie ist deshalb vielleicht nicht weniger gefährlich, aber es sind doch geistige Factoren, mit denen sie rechnet, und der Kampf wird mit der Feder und in Debatten geführt, da ist doch einige Hoffnung, daß zuletzt auch die Wucht der realen Interessen sich geltend machen wird. So schwebt der Kaiserstaat zwischen den merkwürdigsten, sonst unverein¬ barer Gegensätzen. Auf der einen Seite Verfall, Auflösung, ein Aus¬ einanderstreben der Theile, bei der großen Mehrzahl der Bevölkerung völliger Mangel an Wärme, ja unverhüllte Abneigung gegen die alte Staatsidee, auf der anderen Seite dagegen eine großartige Entfaltung der productiven Staatskrast, Steigerung des Wohlstandes, der Industrie, ja auch der socialen Bildung in den Individuen. Die Steuern werden gezahlt, die Soldaten aus- exercirt, das Einströmen deutscher Intelligenz dauert unablässig fort. Wollen wir demnach diesen Zustand Oestreichs in einer Formel ausdrücken, welche nicht die ganze Sachlage, aber den Hauptpunkt definirt, so erscheint Fol¬ gendes als Resultat der letzten Vergangenheit: die alte Idee, weichte den Staat zusammenhielt, das Hausinteresse der kaiserlichen Familie Habsburg-Lothringen hat mit reißender Schnelligkeit die Bedeutung verloren, aber an Stelle des alten Bandes tritt eine andere verbindende Gewalt, die Gemeinsamkeit der wichtigsten realen Interessen, deren Centrum die Hauptstadt Wien geworden ist. Nicht mehr die Hofburg ist der festeste Mittelpunkt des östreichischen Staa- tes, sondern die Stadt Wien selbst ist es, mit den neuen Straßen auf dem bebauten Glacis, mit ihren Capitalien, ihrer starken Production, der An¬ ziehungskraft und geistigen Einwirkung, welche sie über das ganze Donau¬ thal ausübt. Aber die alte Einheit ist im Untergang und die neue ist erst im Werden und sie ist noch lange nicht stark genug, um überall ihre An¬ sprüche gegenüber den Nationalitätswünschen siegreich zu machen. Das ist in Wahrheit die Gefahr Oestreichs; ob sie durch neue Ein- bußen an Landgebiet, ob sie überhaupt unter den Auspreisn des kaiserlichen Hauses bewältigt werden kann, das hängt zum Theil von unübersehbaren Conflicten der europäischen Politik ab; zum größten Theil aber von den Maßregeln der kaiserlichen Regierung. Die Zweitheiligkeit des Reiches ist * 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/129>, abgerufen am 27.07.2024.