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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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darf er seine Scene beginnen, sondern diese ist an eine ganz bestimmte, dafür
eingerichtete Stelle verwiesen, die der "Ort" oder "Stand" heißt.

Der "Ort" ist also diejenige Stelle des Spielplatzes, wo
die für eine jede Scene nothwendigen Vorkehrungen getroffen
und die etwa erforderlichen Maschinen und Requisiten auf¬
gestellt sind.

Diese Einrichtung war durch die ganze Natur des geistlichen Schauspiels
geboten. Denn ein solches trägt seine Einheit allein in der religiösen Idee,
während seine Handlung sich um zahlreiche Helden und mit mehr als shake-
spearischer Unregelmäßigkeit in den verschiedensten Oertlichkeiten bewegt.
Daher böte eine dramatische Darstellung von solchem Charakter und solcher
Ausdehnung für unsere heutige Bühne, welche nur eine räumliche und
zeitliche Hintereinanderfolge der Scenen kennt, in technischer
Hinsicht unüberwindliche Schwierigkeiten. Indem die mittelalterliche Bühne
nun für jede Scene einen besonderen "Ort" erbaute, gewann sie ein
räumliches Nebeneinander der Scenen und überhüpfte auf diese
Weise leichten Fußes die Hindernisse, die selbst heute einem unendlich über-
legenen Maschinenwesen unüberstetglich wären.

Bietet also das antike und moderne Theater der dramatischen Handlung
nur einen geschlossenen Bühnenraum, so gewährt ihr die mittelalterliche
Darstellungsart deren zahlreiche offene und neben einander vereinigte.

Schauen wir uns nun nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen aus dem
Spielplatze des ersten Tages selbst um.

Da bemerken wir vor der Brügge an "Orten" zunächst "den Tisch
zum Gastmahl Simonis und Zachaei;" den "Baum Zachaei," und
die "Apotheke" und "den Sod zum Joseph und Samariterin"; in
der Ecke bei x nach zu "die Hölle" (daher hier kein Eingang) an der
Seite x? den "Teich Sylor"; das "Weihnachtshüttlein"; die "ge¬
meine Begräbniß" und den "Wasserfels"; vor der Brügge dz die
"Judenschule", "Matthaei Sitz" und den "Tempel"; in der Mitte
des Platzes steht ein Häuschen für den "Englischen Gruß"; ein erhöhtes
Gestell für das "Opfer Abrahams" und das "Thal Hebron"; von der
Ecke no ist ein fließendes Wasser quer über den Platz geleitet, den es bei L
wieder verläßt, dies stellt den .Jordan" dar, an ihm stehen die Säulen für
das "goldene Kalb" und die "eherne Schlange"; die "Grube für
das Kalb", der "Opfertisch" und das "Opfer Kains und Adels."
Die durch Zahl und Ausstattung bedeutendsten Oerter lagen indessen vor
und an dem "Hause zur Sonnen" (0.)

In den obersten Dachfenstern dieses Gebäudes nämlich saß "der Stern-
und Heiliggeist-Leiter", der von hier an einer, zwischen seinem Fenster und


darf er seine Scene beginnen, sondern diese ist an eine ganz bestimmte, dafür
eingerichtete Stelle verwiesen, die der „Ort" oder „Stand" heißt.

Der „Ort" ist also diejenige Stelle des Spielplatzes, wo
die für eine jede Scene nothwendigen Vorkehrungen getroffen
und die etwa erforderlichen Maschinen und Requisiten auf¬
gestellt sind.

Diese Einrichtung war durch die ganze Natur des geistlichen Schauspiels
geboten. Denn ein solches trägt seine Einheit allein in der religiösen Idee,
während seine Handlung sich um zahlreiche Helden und mit mehr als shake-
spearischer Unregelmäßigkeit in den verschiedensten Oertlichkeiten bewegt.
Daher böte eine dramatische Darstellung von solchem Charakter und solcher
Ausdehnung für unsere heutige Bühne, welche nur eine räumliche und
zeitliche Hintereinanderfolge der Scenen kennt, in technischer
Hinsicht unüberwindliche Schwierigkeiten. Indem die mittelalterliche Bühne
nun für jede Scene einen besonderen „Ort" erbaute, gewann sie ein
räumliches Nebeneinander der Scenen und überhüpfte auf diese
Weise leichten Fußes die Hindernisse, die selbst heute einem unendlich über-
legenen Maschinenwesen unüberstetglich wären.

Bietet also das antike und moderne Theater der dramatischen Handlung
nur einen geschlossenen Bühnenraum, so gewährt ihr die mittelalterliche
Darstellungsart deren zahlreiche offene und neben einander vereinigte.

Schauen wir uns nun nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen aus dem
Spielplatze des ersten Tages selbst um.

Da bemerken wir vor der Brügge an „Orten" zunächst „den Tisch
zum Gastmahl Simonis und Zachaei;" den „Baum Zachaei," und
die „Apotheke" und „den Sod zum Joseph und Samariterin"; in
der Ecke bei x nach zu „die Hölle" (daher hier kein Eingang) an der
Seite x? den „Teich Sylor"; das „Weihnachtshüttlein"; die „ge¬
meine Begräbniß" und den „Wasserfels"; vor der Brügge dz die
„Judenschule", „Matthaei Sitz" und den „Tempel"; in der Mitte
des Platzes steht ein Häuschen für den „Englischen Gruß"; ein erhöhtes
Gestell für das „Opfer Abrahams" und das „Thal Hebron"; von der
Ecke no ist ein fließendes Wasser quer über den Platz geleitet, den es bei L
wieder verläßt, dies stellt den .Jordan" dar, an ihm stehen die Säulen für
das „goldene Kalb" und die „eherne Schlange"; die „Grube für
das Kalb", der „Opfertisch" und das „Opfer Kains und Adels."
Die durch Zahl und Ausstattung bedeutendsten Oerter lagen indessen vor
und an dem „Hause zur Sonnen" (0.)

In den obersten Dachfenstern dieses Gebäudes nämlich saß „der Stern-
und Heiliggeist-Leiter", der von hier an einer, zwischen seinem Fenster und


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[0116] darf er seine Scene beginnen, sondern diese ist an eine ganz bestimmte, dafür eingerichtete Stelle verwiesen, die der „Ort" oder „Stand" heißt. Der „Ort" ist also diejenige Stelle des Spielplatzes, wo die für eine jede Scene nothwendigen Vorkehrungen getroffen und die etwa erforderlichen Maschinen und Requisiten auf¬ gestellt sind. Diese Einrichtung war durch die ganze Natur des geistlichen Schauspiels geboten. Denn ein solches trägt seine Einheit allein in der religiösen Idee, während seine Handlung sich um zahlreiche Helden und mit mehr als shake- spearischer Unregelmäßigkeit in den verschiedensten Oertlichkeiten bewegt. Daher böte eine dramatische Darstellung von solchem Charakter und solcher Ausdehnung für unsere heutige Bühne, welche nur eine räumliche und zeitliche Hintereinanderfolge der Scenen kennt, in technischer Hinsicht unüberwindliche Schwierigkeiten. Indem die mittelalterliche Bühne nun für jede Scene einen besonderen „Ort" erbaute, gewann sie ein räumliches Nebeneinander der Scenen und überhüpfte auf diese Weise leichten Fußes die Hindernisse, die selbst heute einem unendlich über- legenen Maschinenwesen unüberstetglich wären. Bietet also das antike und moderne Theater der dramatischen Handlung nur einen geschlossenen Bühnenraum, so gewährt ihr die mittelalterliche Darstellungsart deren zahlreiche offene und neben einander vereinigte. Schauen wir uns nun nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen aus dem Spielplatze des ersten Tages selbst um. Da bemerken wir vor der Brügge an „Orten" zunächst „den Tisch zum Gastmahl Simonis und Zachaei;" den „Baum Zachaei," und die „Apotheke" und „den Sod zum Joseph und Samariterin"; in der Ecke bei x nach zu „die Hölle" (daher hier kein Eingang) an der Seite x? den „Teich Sylor"; das „Weihnachtshüttlein"; die „ge¬ meine Begräbniß" und den „Wasserfels"; vor der Brügge dz die „Judenschule", „Matthaei Sitz" und den „Tempel"; in der Mitte des Platzes steht ein Häuschen für den „Englischen Gruß"; ein erhöhtes Gestell für das „Opfer Abrahams" und das „Thal Hebron"; von der Ecke no ist ein fließendes Wasser quer über den Platz geleitet, den es bei L wieder verläßt, dies stellt den .Jordan" dar, an ihm stehen die Säulen für das „goldene Kalb" und die „eherne Schlange"; die „Grube für das Kalb", der „Opfertisch" und das „Opfer Kains und Adels." Die durch Zahl und Ausstattung bedeutendsten Oerter lagen indessen vor und an dem „Hause zur Sonnen" (0.) In den obersten Dachfenstern dieses Gebäudes nämlich saß „der Stern- und Heiliggeist-Leiter", der von hier an einer, zwischen seinem Fenster und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/116>, abgerufen am 01.09.2024.