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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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für die musikalische Bedeutung und ihren Ausdruck Alles und Jedes so be-
stimmt und treffend wäre. Wollte man und könnte man sein Gefühl aber
für diese Seite der Schönheit einmal verschließen und das Ganze als ein
musikalisch-architektonisches Werk betrachten, dann ist es ein curiöses Monstrum
von übereinandergeschobenen, ineinander gewachsenen Sätzen, wie sie die
ebenso zusammengewürfelten Textphrasen sich haben zusammenfügen lassen,
ohne alle Gruppirung und Höhenpunkt. Bei den meisten Cantaten Bach's
ist dieser im Anfang, der in der Regel sehr breit ausgeführte Einleitungschor,
der wie eine Locomotive eine Reihe von Recitativ- und Arien-Waggons nach¬
zieht, bis zuletzt der Choral-Staatspostwagen schließt. In "Gottes Zeit"
ist auch der erste Chor nicht besonders selbständig, es geht immer über in
Anderes. Der Schluß jubelt gegen das Vorhergegangene sehr. -- Fürs
Kunstgebild in Allem so viel Zufälliges, wie es einem jener Academiker,
einem der italienischen Schule, der ein gestaltetes Ganze im Sinne haben
wird, nicht kommen kann. Dabei doch wieder unendlich Schönes und es ist
immer gut, daß man sich an Diesem und Jenem erfreuen kann, an Rafael
und Albrecht Dürer, wie auch an Manchem, was zwischen Beiden liegt --
Mazeppa von Liszt liegt außerhalb. Etwas wenig Erfreuliches war mir neu¬
lich auch die große Quartettfuge von Beethoven, kauend libre, tavtöt reedsred^iz,
ursprünglich als Schlußsatz des L-aur-Quartetts ox>. 136 (?) geschrieben, die
aber Haslinger nicht hat annehmen wollen und Beethoven veranlaßt hat,
ein anderes Finale zu schreiben. Dann ist sie einzeln gedruckt. Die Com¬
bination ist immer: rein' Dich oder ich freß Dich, und klingt oft grußlich.
Da macht mir's Spaß, wenn ganz musikunverständige Leute entzückt sich
stellen; geradezu gesagt -- ich find's abscheulich, was ich nicht sagen würde,
wenn sie gestehen wollten, daß es ihnen abscheulich vorkommt. Da heißt's
wie öfter: Es ist etwas schreckliches um einen großen Mann, auf den die
Dummen sich etwas zu Gute thun.


M. Hauptmann.

Leipzig, den 6. Juni 1860.


Lieber verehrter Freund!

Es ist fast fünf Monate, daß ich Ihren lieben letzten Brief, den nach
Vollendung des Mozart, erhalten habe, nein es ist 6 Monate, denn er ist
vom S. December vorigen Jahres, wie ich eben sehe. Sprechen kann man
allenfalls so, wenn man schreibt sollte man erst nachsehen, bevor man anfängt,
oder wenn man sich geirrt, einen anderen Briefbogen nehmen. In meiner
englischen Stunde, vor langer, langer Zeit, kam einmal die Redensart, da
Einer von einem Andern erzählen wollte und sich auf seinen Namen nicht


für die musikalische Bedeutung und ihren Ausdruck Alles und Jedes so be-
stimmt und treffend wäre. Wollte man und könnte man sein Gefühl aber
für diese Seite der Schönheit einmal verschließen und das Ganze als ein
musikalisch-architektonisches Werk betrachten, dann ist es ein curiöses Monstrum
von übereinandergeschobenen, ineinander gewachsenen Sätzen, wie sie die
ebenso zusammengewürfelten Textphrasen sich haben zusammenfügen lassen,
ohne alle Gruppirung und Höhenpunkt. Bei den meisten Cantaten Bach's
ist dieser im Anfang, der in der Regel sehr breit ausgeführte Einleitungschor,
der wie eine Locomotive eine Reihe von Recitativ- und Arien-Waggons nach¬
zieht, bis zuletzt der Choral-Staatspostwagen schließt. In „Gottes Zeit"
ist auch der erste Chor nicht besonders selbständig, es geht immer über in
Anderes. Der Schluß jubelt gegen das Vorhergegangene sehr. — Fürs
Kunstgebild in Allem so viel Zufälliges, wie es einem jener Academiker,
einem der italienischen Schule, der ein gestaltetes Ganze im Sinne haben
wird, nicht kommen kann. Dabei doch wieder unendlich Schönes und es ist
immer gut, daß man sich an Diesem und Jenem erfreuen kann, an Rafael
und Albrecht Dürer, wie auch an Manchem, was zwischen Beiden liegt —
Mazeppa von Liszt liegt außerhalb. Etwas wenig Erfreuliches war mir neu¬
lich auch die große Quartettfuge von Beethoven, kauend libre, tavtöt reedsred^iz,
ursprünglich als Schlußsatz des L-aur-Quartetts ox>. 136 (?) geschrieben, die
aber Haslinger nicht hat annehmen wollen und Beethoven veranlaßt hat,
ein anderes Finale zu schreiben. Dann ist sie einzeln gedruckt. Die Com¬
bination ist immer: rein' Dich oder ich freß Dich, und klingt oft grußlich.
Da macht mir's Spaß, wenn ganz musikunverständige Leute entzückt sich
stellen; geradezu gesagt — ich find's abscheulich, was ich nicht sagen würde,
wenn sie gestehen wollten, daß es ihnen abscheulich vorkommt. Da heißt's
wie öfter: Es ist etwas schreckliches um einen großen Mann, auf den die
Dummen sich etwas zu Gute thun.


M. Hauptmann.

Leipzig, den 6. Juni 1860.


Lieber verehrter Freund!

Es ist fast fünf Monate, daß ich Ihren lieben letzten Brief, den nach
Vollendung des Mozart, erhalten habe, nein es ist 6 Monate, denn er ist
vom S. December vorigen Jahres, wie ich eben sehe. Sprechen kann man
allenfalls so, wenn man schreibt sollte man erst nachsehen, bevor man anfängt,
oder wenn man sich geirrt, einen anderen Briefbogen nehmen. In meiner
englischen Stunde, vor langer, langer Zeit, kam einmal die Redensart, da
Einer von einem Andern erzählen wollte und sich auf seinen Namen nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/102>, abgerufen am 18.12.2024.