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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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werden. Statt des verlassenen Aschenbrödels der strengen wissenschaftlichen
Arbeit in dem stattlich anziehenden Gebiete drängten sich ehrgeizige Stief¬
geschwister vor, welche mit leichten Reizen um die Gunst der Menge buhlten.
Jetzt aber wird allmälig die echte Königsbraut aus dem Schwarm des Di¬
lettantismus herauserkannt und man beginnt einzusehen, daß die subtilen
Pfade, die zum wirklichen Verständniß der Kunstwerke und ihrer ästhetischen
wie technischen Bedingungen führen, nur der kleine Fuß zu gehen fähig ist,
den die Schuhe der Fabel suchen.

Jedem solchen Werke, wie das neue allgemeine Künstler-Lexikon ist, steht
es wohl an, sich bereits Geleistetes bestimmt zu nutze zu machen. Es ist zu
loben, daß Verleger und Herausgeber auch den Schein, ganz aus dem Frischer
zu arbeiten, dadurch vermieden haben, daß sie eine neue Bearbeitung des ge¬
schätzten und immer begehrten Nagler'schen Werkes bieten, welches in ihre
Hände übergegangen ist. Freilich sind gerade in dem Menschenalter seit dem
Erscheinen des letzteren die Masse des Forschungsmaterials und der Quellen¬
literatur und daher die Anforderungen an ihre Verwerthung in einer Weise
gewachsen, welche völlig neue Bearbeitung fast sämmtlicher Artikel nöthig
macht -- darüber giebt der Prospect des Werkes Kennern und Laien hin¬
reichenden Aufschluß -- aber es ist immerhin eine höchst achtbare Summe
brauchbaren Stoffes noch vorhanden, und auch in der Wissenschaft ist recht
verstandene Pietät eine edle Tugend.

Die Anlage des neuen Künstlerlexicons ist die breiteste und zugleich die
tiefste, die sich zu diesem Zwecke denken läßt. Sowohl dem Zeitumfange als
auch den Kunstzweigen nach soll es erschöpfend sein; von den antiken bis zu
den modernsten Künstlern, von produktiver und reproduktiver Kunst will es zu¬
sammenfassend handeln; selbst Kunstgewerbe und Decorationskünste sollen nicht
ausgeschlossen sein. Selbstverständlich ist dies nur bei der durchgeführtesten
Arbeitstheilung zu erreichen. Die hauptsächliche Vorbedingung des Unter¬
nehmens war daher das Verständniß mit nahezu sämmtlichen Schriftstellern,
welche auf den einschlagenden Gebieten nach wissenschaftlichem Gesichtspunkte
arbeiten. Schon vor Jahr und Tag hatten Herausgeber und Verleger ihre
Werbungen ergehen lassen, und der Erfolg ist, wie nicht blos der Prospekt
versichert, sondern auch der Augenschein lehrt, überraschend gewesen; es ist
gelungen, außer den heimischen die namhaftesten ausländischen Fachgenossen
zur thätigen Theilnahme zu gewinnen. Und da das Werk sich nicht mit
Verzeichnung des bis zu einem bestimmten Zeitraume in der Kunstliteratur
Geleisteten begnügt, sondern den Stand der heutigen Forschung über¬
haupt, also auch der zur Zeit noch unveröffentlichten Arbeit repräsentiren
wird, so haben wir es mit einem internationalen Originalwerke zu
thun, das uns auch als Deutschen Ehre macht. Schon in den ersten beiden


werden. Statt des verlassenen Aschenbrödels der strengen wissenschaftlichen
Arbeit in dem stattlich anziehenden Gebiete drängten sich ehrgeizige Stief¬
geschwister vor, welche mit leichten Reizen um die Gunst der Menge buhlten.
Jetzt aber wird allmälig die echte Königsbraut aus dem Schwarm des Di¬
lettantismus herauserkannt und man beginnt einzusehen, daß die subtilen
Pfade, die zum wirklichen Verständniß der Kunstwerke und ihrer ästhetischen
wie technischen Bedingungen führen, nur der kleine Fuß zu gehen fähig ist,
den die Schuhe der Fabel suchen.

Jedem solchen Werke, wie das neue allgemeine Künstler-Lexikon ist, steht
es wohl an, sich bereits Geleistetes bestimmt zu nutze zu machen. Es ist zu
loben, daß Verleger und Herausgeber auch den Schein, ganz aus dem Frischer
zu arbeiten, dadurch vermieden haben, daß sie eine neue Bearbeitung des ge¬
schätzten und immer begehrten Nagler'schen Werkes bieten, welches in ihre
Hände übergegangen ist. Freilich sind gerade in dem Menschenalter seit dem
Erscheinen des letzteren die Masse des Forschungsmaterials und der Quellen¬
literatur und daher die Anforderungen an ihre Verwerthung in einer Weise
gewachsen, welche völlig neue Bearbeitung fast sämmtlicher Artikel nöthig
macht — darüber giebt der Prospect des Werkes Kennern und Laien hin¬
reichenden Aufschluß — aber es ist immerhin eine höchst achtbare Summe
brauchbaren Stoffes noch vorhanden, und auch in der Wissenschaft ist recht
verstandene Pietät eine edle Tugend.

Die Anlage des neuen Künstlerlexicons ist die breiteste und zugleich die
tiefste, die sich zu diesem Zwecke denken läßt. Sowohl dem Zeitumfange als
auch den Kunstzweigen nach soll es erschöpfend sein; von den antiken bis zu
den modernsten Künstlern, von produktiver und reproduktiver Kunst will es zu¬
sammenfassend handeln; selbst Kunstgewerbe und Decorationskünste sollen nicht
ausgeschlossen sein. Selbstverständlich ist dies nur bei der durchgeführtesten
Arbeitstheilung zu erreichen. Die hauptsächliche Vorbedingung des Unter¬
nehmens war daher das Verständniß mit nahezu sämmtlichen Schriftstellern,
welche auf den einschlagenden Gebieten nach wissenschaftlichem Gesichtspunkte
arbeiten. Schon vor Jahr und Tag hatten Herausgeber und Verleger ihre
Werbungen ergehen lassen, und der Erfolg ist, wie nicht blos der Prospekt
versichert, sondern auch der Augenschein lehrt, überraschend gewesen; es ist
gelungen, außer den heimischen die namhaftesten ausländischen Fachgenossen
zur thätigen Theilnahme zu gewinnen. Und da das Werk sich nicht mit
Verzeichnung des bis zu einem bestimmten Zeitraume in der Kunstliteratur
Geleisteten begnügt, sondern den Stand der heutigen Forschung über¬
haupt, also auch der zur Zeit noch unveröffentlichten Arbeit repräsentiren
wird, so haben wir es mit einem internationalen Originalwerke zu
thun, das uns auch als Deutschen Ehre macht. Schon in den ersten beiden


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[0472] werden. Statt des verlassenen Aschenbrödels der strengen wissenschaftlichen Arbeit in dem stattlich anziehenden Gebiete drängten sich ehrgeizige Stief¬ geschwister vor, welche mit leichten Reizen um die Gunst der Menge buhlten. Jetzt aber wird allmälig die echte Königsbraut aus dem Schwarm des Di¬ lettantismus herauserkannt und man beginnt einzusehen, daß die subtilen Pfade, die zum wirklichen Verständniß der Kunstwerke und ihrer ästhetischen wie technischen Bedingungen führen, nur der kleine Fuß zu gehen fähig ist, den die Schuhe der Fabel suchen. Jedem solchen Werke, wie das neue allgemeine Künstler-Lexikon ist, steht es wohl an, sich bereits Geleistetes bestimmt zu nutze zu machen. Es ist zu loben, daß Verleger und Herausgeber auch den Schein, ganz aus dem Frischer zu arbeiten, dadurch vermieden haben, daß sie eine neue Bearbeitung des ge¬ schätzten und immer begehrten Nagler'schen Werkes bieten, welches in ihre Hände übergegangen ist. Freilich sind gerade in dem Menschenalter seit dem Erscheinen des letzteren die Masse des Forschungsmaterials und der Quellen¬ literatur und daher die Anforderungen an ihre Verwerthung in einer Weise gewachsen, welche völlig neue Bearbeitung fast sämmtlicher Artikel nöthig macht — darüber giebt der Prospect des Werkes Kennern und Laien hin¬ reichenden Aufschluß — aber es ist immerhin eine höchst achtbare Summe brauchbaren Stoffes noch vorhanden, und auch in der Wissenschaft ist recht verstandene Pietät eine edle Tugend. Die Anlage des neuen Künstlerlexicons ist die breiteste und zugleich die tiefste, die sich zu diesem Zwecke denken läßt. Sowohl dem Zeitumfange als auch den Kunstzweigen nach soll es erschöpfend sein; von den antiken bis zu den modernsten Künstlern, von produktiver und reproduktiver Kunst will es zu¬ sammenfassend handeln; selbst Kunstgewerbe und Decorationskünste sollen nicht ausgeschlossen sein. Selbstverständlich ist dies nur bei der durchgeführtesten Arbeitstheilung zu erreichen. Die hauptsächliche Vorbedingung des Unter¬ nehmens war daher das Verständniß mit nahezu sämmtlichen Schriftstellern, welche auf den einschlagenden Gebieten nach wissenschaftlichem Gesichtspunkte arbeiten. Schon vor Jahr und Tag hatten Herausgeber und Verleger ihre Werbungen ergehen lassen, und der Erfolg ist, wie nicht blos der Prospekt versichert, sondern auch der Augenschein lehrt, überraschend gewesen; es ist gelungen, außer den heimischen die namhaftesten ausländischen Fachgenossen zur thätigen Theilnahme zu gewinnen. Und da das Werk sich nicht mit Verzeichnung des bis zu einem bestimmten Zeitraume in der Kunstliteratur Geleisteten begnügt, sondern den Stand der heutigen Forschung über¬ haupt, also auch der zur Zeit noch unveröffentlichten Arbeit repräsentiren wird, so haben wir es mit einem internationalen Originalwerke zu thun, das uns auch als Deutschen Ehre macht. Schon in den ersten beiden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/472>, abgerufen am 28.09.2024.