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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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weitverbreitete Presse hilfreich zur Seite hat und bei den Deutschen aller Pro¬
vinzen Wiederhall findet. Man hat von dem alten Wien behauptet, daß es
alle Geister verweichliche und im Wohlleben verderbe; ebenso kann man dem
neuen Wien nachsagen, daß ein dauerndes Leben darin unwillkürlich die
Neigung wecke, den Grundsätzen politischer Centralisation zu huldigen. Die
gewaltige Stadt läßt das eigenartige Wesen der Provinzen übersehen und
verdeckt die nationalen Besonderheiten. Das Gewohnheitsrecht der Wiener,
die entscheidende politische Stimme zu führen, ist seit dem gewaltigen Wachs¬
thum der Stadt und bei dem volltönenden Wirken der Presse, sür sie all-
mälig zu einer Forderung der praktischen Vernunft geworden.

So ist also die gegenwärtige Lage der Dinge die, daß die lebenskräf¬
tigsten Glieder des Reiches, auch äußerlich die größere Hälfte desselben, sür
den Bundesstaat verloren gehn, daß in dem übrigen Reste des Reiches der
politische Gemeinsinn sich vermindert hat, daß die Lust sich abzusondern und
nicht die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer Einigung jetzt der Föde¬
rativverfassung die meisten Anhänger zuführt, daß in gleichem Maße, in
welchem die nationalen Parteien der einzelnen Provinzen das politische Leben
von dem Centrum ableiten wollen, dieses an Gewicht und namentlich an
Selbstbewußtsein zunimmt und in stolzem Trotze beharrt.

Es erscheint kaum denkbar, daß die westliche Hälfte Oestreichs in einen
Bundesstaat verwandelt werde, außer auf dem Wege der Gewalt, nachdem
eine vollständige innere Umwälzung stattgefunden, eine Revolution vorher
die Bahn frei gemacht hat. Besiegt man den Antagonismus der verschie¬
denen Nationalitäten nicht, dessen rasches Wachsen in den letzten zwanzig
Jahren keinem aufmerksamen Beobachter entgehen konnte, versteht man sich
nicht auf die Kunst, die einzelnen nationalen Parteien in sich zu entzweien,
dann zu zerbröckeln und so unschädlich zu machen, so bleibt schwerlich eine
andere Wahl als: Entweder waltet in Wien und in einigen anderen deut¬
schen Städten frei das Gesetz und über die slavischen Provinzen wird der Be¬
lagerungszustand verhängt; oder umgekehrt: die Wünsche der letzteren wer¬
den erfüllt und Wien mit Gewalt zum stummen Gehorsam gezwungen. Eine
dauernde, allseitig befriedigende Verfassung ist, seitdem Ungarn seine eigenen
Wege geht, für die andere Hälfte Oestreichs nicht leichter, sondern unendlich
schwieriger geworden. Diese Hälfte ist nicht klein genug, um unter eine uniforme
Regierung, unter ein festgefügtes Centralisationssystem gebracht zu werden, und
nicht mehr groß genug, um einen lebenskräftigen, auf dem Gleichgewicht der
verschiedenen Nationalitäten beruhenden Bundesstaat zu bilden. Am wenig¬
sten wird man dazu auf dem Wege gelangen, welchen einzuschlagen, wie es
scheint, die Regierung die größte Neigung hegt. Man wird das Ziel nicht
erreichen, wenn man sich mit vereinzelten Provinzen in einen Handel einläßt,


weitverbreitete Presse hilfreich zur Seite hat und bei den Deutschen aller Pro¬
vinzen Wiederhall findet. Man hat von dem alten Wien behauptet, daß es
alle Geister verweichliche und im Wohlleben verderbe; ebenso kann man dem
neuen Wien nachsagen, daß ein dauerndes Leben darin unwillkürlich die
Neigung wecke, den Grundsätzen politischer Centralisation zu huldigen. Die
gewaltige Stadt läßt das eigenartige Wesen der Provinzen übersehen und
verdeckt die nationalen Besonderheiten. Das Gewohnheitsrecht der Wiener,
die entscheidende politische Stimme zu führen, ist seit dem gewaltigen Wachs¬
thum der Stadt und bei dem volltönenden Wirken der Presse, sür sie all-
mälig zu einer Forderung der praktischen Vernunft geworden.

So ist also die gegenwärtige Lage der Dinge die, daß die lebenskräf¬
tigsten Glieder des Reiches, auch äußerlich die größere Hälfte desselben, sür
den Bundesstaat verloren gehn, daß in dem übrigen Reste des Reiches der
politische Gemeinsinn sich vermindert hat, daß die Lust sich abzusondern und
nicht die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer Einigung jetzt der Föde¬
rativverfassung die meisten Anhänger zuführt, daß in gleichem Maße, in
welchem die nationalen Parteien der einzelnen Provinzen das politische Leben
von dem Centrum ableiten wollen, dieses an Gewicht und namentlich an
Selbstbewußtsein zunimmt und in stolzem Trotze beharrt.

Es erscheint kaum denkbar, daß die westliche Hälfte Oestreichs in einen
Bundesstaat verwandelt werde, außer auf dem Wege der Gewalt, nachdem
eine vollständige innere Umwälzung stattgefunden, eine Revolution vorher
die Bahn frei gemacht hat. Besiegt man den Antagonismus der verschie¬
denen Nationalitäten nicht, dessen rasches Wachsen in den letzten zwanzig
Jahren keinem aufmerksamen Beobachter entgehen konnte, versteht man sich
nicht auf die Kunst, die einzelnen nationalen Parteien in sich zu entzweien,
dann zu zerbröckeln und so unschädlich zu machen, so bleibt schwerlich eine
andere Wahl als: Entweder waltet in Wien und in einigen anderen deut¬
schen Städten frei das Gesetz und über die slavischen Provinzen wird der Be¬
lagerungszustand verhängt; oder umgekehrt: die Wünsche der letzteren wer¬
den erfüllt und Wien mit Gewalt zum stummen Gehorsam gezwungen. Eine
dauernde, allseitig befriedigende Verfassung ist, seitdem Ungarn seine eigenen
Wege geht, für die andere Hälfte Oestreichs nicht leichter, sondern unendlich
schwieriger geworden. Diese Hälfte ist nicht klein genug, um unter eine uniforme
Regierung, unter ein festgefügtes Centralisationssystem gebracht zu werden, und
nicht mehr groß genug, um einen lebenskräftigen, auf dem Gleichgewicht der
verschiedenen Nationalitäten beruhenden Bundesstaat zu bilden. Am wenig¬
sten wird man dazu auf dem Wege gelangen, welchen einzuschlagen, wie es
scheint, die Regierung die größte Neigung hegt. Man wird das Ziel nicht
erreichen, wenn man sich mit vereinzelten Provinzen in einen Handel einläßt,


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[0453] weitverbreitete Presse hilfreich zur Seite hat und bei den Deutschen aller Pro¬ vinzen Wiederhall findet. Man hat von dem alten Wien behauptet, daß es alle Geister verweichliche und im Wohlleben verderbe; ebenso kann man dem neuen Wien nachsagen, daß ein dauerndes Leben darin unwillkürlich die Neigung wecke, den Grundsätzen politischer Centralisation zu huldigen. Die gewaltige Stadt läßt das eigenartige Wesen der Provinzen übersehen und verdeckt die nationalen Besonderheiten. Das Gewohnheitsrecht der Wiener, die entscheidende politische Stimme zu führen, ist seit dem gewaltigen Wachs¬ thum der Stadt und bei dem volltönenden Wirken der Presse, sür sie all- mälig zu einer Forderung der praktischen Vernunft geworden. So ist also die gegenwärtige Lage der Dinge die, daß die lebenskräf¬ tigsten Glieder des Reiches, auch äußerlich die größere Hälfte desselben, sür den Bundesstaat verloren gehn, daß in dem übrigen Reste des Reiches der politische Gemeinsinn sich vermindert hat, daß die Lust sich abzusondern und nicht die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer Einigung jetzt der Föde¬ rativverfassung die meisten Anhänger zuführt, daß in gleichem Maße, in welchem die nationalen Parteien der einzelnen Provinzen das politische Leben von dem Centrum ableiten wollen, dieses an Gewicht und namentlich an Selbstbewußtsein zunimmt und in stolzem Trotze beharrt. Es erscheint kaum denkbar, daß die westliche Hälfte Oestreichs in einen Bundesstaat verwandelt werde, außer auf dem Wege der Gewalt, nachdem eine vollständige innere Umwälzung stattgefunden, eine Revolution vorher die Bahn frei gemacht hat. Besiegt man den Antagonismus der verschie¬ denen Nationalitäten nicht, dessen rasches Wachsen in den letzten zwanzig Jahren keinem aufmerksamen Beobachter entgehen konnte, versteht man sich nicht auf die Kunst, die einzelnen nationalen Parteien in sich zu entzweien, dann zu zerbröckeln und so unschädlich zu machen, so bleibt schwerlich eine andere Wahl als: Entweder waltet in Wien und in einigen anderen deut¬ schen Städten frei das Gesetz und über die slavischen Provinzen wird der Be¬ lagerungszustand verhängt; oder umgekehrt: die Wünsche der letzteren wer¬ den erfüllt und Wien mit Gewalt zum stummen Gehorsam gezwungen. Eine dauernde, allseitig befriedigende Verfassung ist, seitdem Ungarn seine eigenen Wege geht, für die andere Hälfte Oestreichs nicht leichter, sondern unendlich schwieriger geworden. Diese Hälfte ist nicht klein genug, um unter eine uniforme Regierung, unter ein festgefügtes Centralisationssystem gebracht zu werden, und nicht mehr groß genug, um einen lebenskräftigen, auf dem Gleichgewicht der verschiedenen Nationalitäten beruhenden Bundesstaat zu bilden. Am wenig¬ sten wird man dazu auf dem Wege gelangen, welchen einzuschlagen, wie es scheint, die Regierung die größte Neigung hegt. Man wird das Ziel nicht erreichen, wenn man sich mit vereinzelten Provinzen in einen Handel einläßt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/453>, abgerufen am 20.09.2024.