Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hunde bestimmt. Blättert man in demselben, so entdeckt man, daß zu den
Grundwahrheiten des politischen Glaubens der Deutschen der Widerwillen
gegen den Ausgleich, die Abneigung gegen die erhöhte Geltung Ungarns und
der Wunsch nach einer Verfassungsänderung gehören. Daß vollends die
Slaven in der Achtung der Deutschen nicht hoch stehen, ihr Dasein in Oest¬
reich als eine wahre Landescalamität angesehen wird, ist ebenso bekannt,
wie daß die Slaven aller Zungen den Haß und die Verachtung mit Wucher¬
zinsen den Deutschen zurückzahlen. Auf dem Boden, wo die giftige Saat
der nationalen Feindschaft durch zwei Jahrzehnte gepflegt wurde, gedeiht keine
föderative Verfassung. Ebenso gut könnte man in einem Lande die religiöse
Toleranz einführen, wo nur verfolgungslustige ^Secten wohnen und jede die
andere als Ketzer für todeswürdig achtet.

Ein weiteres Hinderniß der Umwandlung der deutsch-slavischen Provinzen
in einen Bundesstaat endlich ist die veränderte Stellung Wiens zu den
Provinzen. Die Hauptstadt hat seit 1848 nicht allein einen überraschenden
materiellen Ausschwung genommen, sondern auch eine politische Bedeutung
gewonnen, die wir in dieser Weise früher nicht kannten. Während und un¬
mittelbar nach der Revolution konnte in liberalen Kreisen ernstlich der Ge¬
danke erwogen werden, ob es nicht räthlich wäre, den Sitz der Reichsregierung
von Wien weg -- nach Ungarn -- zu verlegen; heute müßte der Plan, die
Centralbehörde und die Centralvertretung der nichtungarischen Länder aus
Wien zu entfernen, verlacht werden. Gewiß ist das Bild des gegenwärtigen
Wien nicht frei von dunkeln, breiten Schatten. Die hohe Aristokratie ist
unter die Juden gegangen, die Börse ist ein Adelscafino geworden, an der
wirthschaftlichen Entwickelung hängt arger Schwindelgeist, die Corruption
-pocht auf die Zugänglichkeit aller Kreise, die vorherrschende politische Halb¬
bildung erscheint unfähig, dem rohen Radicalismus (Je toller desto freier
ist seine Devise) eine feste Schranke entgegenzustellen, die Zeitungspresse hat
sich in einen Gegenstand geschäftlicher Speculation verwandelt, bei welcher der
Wahrheit nicht immer der höchste Waarenwerth zugemessen wird. Diese
und viele andere Beschuldigungen kann man tagtäglich hören, ohne sie stets
widerlegen zu können. Auf der andern Seite ist aber Wien mehr als jemals
der maßgebende Mittelpunkt der deutschen Bevölkerung ganz Oestreichs ge¬
worden. Die Deutschböhmen, die Deutschen Steiermarks, die liberalen Deut¬
schen in Tirol suchen ihre Stärke und finden ihre Stütze mehr in Wien als
in ihrer engeren Heimath, sie steigern dadurch nicht allein das Gewicht
Wiens in der politischen Welt, sondern verleihen auch der öffentlichen Mei¬
nung Wiens das Gepräge der Allgemeingiltigkeit für alle Deutschen Oest¬
reichs. Wer gegen dieselbe ankämpft, hat es mit einer Macht zu thun, welche
in den Regierungskreisen stark und zahlreich vertreten ist, eine kampfbereite,


hunde bestimmt. Blättert man in demselben, so entdeckt man, daß zu den
Grundwahrheiten des politischen Glaubens der Deutschen der Widerwillen
gegen den Ausgleich, die Abneigung gegen die erhöhte Geltung Ungarns und
der Wunsch nach einer Verfassungsänderung gehören. Daß vollends die
Slaven in der Achtung der Deutschen nicht hoch stehen, ihr Dasein in Oest¬
reich als eine wahre Landescalamität angesehen wird, ist ebenso bekannt,
wie daß die Slaven aller Zungen den Haß und die Verachtung mit Wucher¬
zinsen den Deutschen zurückzahlen. Auf dem Boden, wo die giftige Saat
der nationalen Feindschaft durch zwei Jahrzehnte gepflegt wurde, gedeiht keine
föderative Verfassung. Ebenso gut könnte man in einem Lande die religiöse
Toleranz einführen, wo nur verfolgungslustige ^Secten wohnen und jede die
andere als Ketzer für todeswürdig achtet.

Ein weiteres Hinderniß der Umwandlung der deutsch-slavischen Provinzen
in einen Bundesstaat endlich ist die veränderte Stellung Wiens zu den
Provinzen. Die Hauptstadt hat seit 1848 nicht allein einen überraschenden
materiellen Ausschwung genommen, sondern auch eine politische Bedeutung
gewonnen, die wir in dieser Weise früher nicht kannten. Während und un¬
mittelbar nach der Revolution konnte in liberalen Kreisen ernstlich der Ge¬
danke erwogen werden, ob es nicht räthlich wäre, den Sitz der Reichsregierung
von Wien weg — nach Ungarn — zu verlegen; heute müßte der Plan, die
Centralbehörde und die Centralvertretung der nichtungarischen Länder aus
Wien zu entfernen, verlacht werden. Gewiß ist das Bild des gegenwärtigen
Wien nicht frei von dunkeln, breiten Schatten. Die hohe Aristokratie ist
unter die Juden gegangen, die Börse ist ein Adelscafino geworden, an der
wirthschaftlichen Entwickelung hängt arger Schwindelgeist, die Corruption
-pocht auf die Zugänglichkeit aller Kreise, die vorherrschende politische Halb¬
bildung erscheint unfähig, dem rohen Radicalismus (Je toller desto freier
ist seine Devise) eine feste Schranke entgegenzustellen, die Zeitungspresse hat
sich in einen Gegenstand geschäftlicher Speculation verwandelt, bei welcher der
Wahrheit nicht immer der höchste Waarenwerth zugemessen wird. Diese
und viele andere Beschuldigungen kann man tagtäglich hören, ohne sie stets
widerlegen zu können. Auf der andern Seite ist aber Wien mehr als jemals
der maßgebende Mittelpunkt der deutschen Bevölkerung ganz Oestreichs ge¬
worden. Die Deutschböhmen, die Deutschen Steiermarks, die liberalen Deut¬
schen in Tirol suchen ihre Stärke und finden ihre Stütze mehr in Wien als
in ihrer engeren Heimath, sie steigern dadurch nicht allein das Gewicht
Wiens in der politischen Welt, sondern verleihen auch der öffentlichen Mei¬
nung Wiens das Gepräge der Allgemeingiltigkeit für alle Deutschen Oest¬
reichs. Wer gegen dieselbe ankämpft, hat es mit einer Macht zu thun, welche
in den Regierungskreisen stark und zahlreich vertreten ist, eine kampfbereite,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0452" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123540"/>
          <p xml:id="ID_1287" prev="#ID_1286"> hunde bestimmt. Blättert man in demselben, so entdeckt man, daß zu den<lb/>
Grundwahrheiten des politischen Glaubens der Deutschen der Widerwillen<lb/>
gegen den Ausgleich, die Abneigung gegen die erhöhte Geltung Ungarns und<lb/>
der Wunsch nach einer Verfassungsänderung gehören. Daß vollends die<lb/>
Slaven in der Achtung der Deutschen nicht hoch stehen, ihr Dasein in Oest¬<lb/>
reich als eine wahre Landescalamität angesehen wird, ist ebenso bekannt,<lb/>
wie daß die Slaven aller Zungen den Haß und die Verachtung mit Wucher¬<lb/>
zinsen den Deutschen zurückzahlen. Auf dem Boden, wo die giftige Saat<lb/>
der nationalen Feindschaft durch zwei Jahrzehnte gepflegt wurde, gedeiht keine<lb/>
föderative Verfassung. Ebenso gut könnte man in einem Lande die religiöse<lb/>
Toleranz einführen, wo nur verfolgungslustige ^Secten wohnen und jede die<lb/>
andere als Ketzer für todeswürdig achtet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1288" next="#ID_1289"> Ein weiteres Hinderniß der Umwandlung der deutsch-slavischen Provinzen<lb/>
in einen Bundesstaat endlich ist die veränderte Stellung Wiens zu den<lb/>
Provinzen. Die Hauptstadt hat seit 1848 nicht allein einen überraschenden<lb/>
materiellen Ausschwung genommen, sondern auch eine politische Bedeutung<lb/>
gewonnen, die wir in dieser Weise früher nicht kannten. Während und un¬<lb/>
mittelbar nach der Revolution konnte in liberalen Kreisen ernstlich der Ge¬<lb/>
danke erwogen werden, ob es nicht räthlich wäre, den Sitz der Reichsregierung<lb/>
von Wien weg &#x2014; nach Ungarn &#x2014; zu verlegen; heute müßte der Plan, die<lb/>
Centralbehörde und die Centralvertretung der nichtungarischen Länder aus<lb/>
Wien zu entfernen, verlacht werden. Gewiß ist das Bild des gegenwärtigen<lb/>
Wien nicht frei von dunkeln, breiten Schatten. Die hohe Aristokratie ist<lb/>
unter die Juden gegangen, die Börse ist ein Adelscafino geworden, an der<lb/>
wirthschaftlichen Entwickelung hängt arger Schwindelgeist, die Corruption<lb/>
-pocht auf die Zugänglichkeit aller Kreise, die vorherrschende politische Halb¬<lb/>
bildung erscheint unfähig, dem rohen Radicalismus (Je toller desto freier<lb/>
ist seine Devise) eine feste Schranke entgegenzustellen, die Zeitungspresse hat<lb/>
sich in einen Gegenstand geschäftlicher Speculation verwandelt, bei welcher der<lb/>
Wahrheit nicht immer der höchste Waarenwerth zugemessen wird. Diese<lb/>
und viele andere Beschuldigungen kann man tagtäglich hören, ohne sie stets<lb/>
widerlegen zu können. Auf der andern Seite ist aber Wien mehr als jemals<lb/>
der maßgebende Mittelpunkt der deutschen Bevölkerung ganz Oestreichs ge¬<lb/>
worden. Die Deutschböhmen, die Deutschen Steiermarks, die liberalen Deut¬<lb/>
schen in Tirol suchen ihre Stärke und finden ihre Stütze mehr in Wien als<lb/>
in ihrer engeren Heimath, sie steigern dadurch nicht allein das Gewicht<lb/>
Wiens in der politischen Welt, sondern verleihen auch der öffentlichen Mei¬<lb/>
nung Wiens das Gepräge der Allgemeingiltigkeit für alle Deutschen Oest¬<lb/>
reichs. Wer gegen dieselbe ankämpft, hat es mit einer Macht zu thun, welche<lb/>
in den Regierungskreisen stark und zahlreich vertreten ist, eine kampfbereite,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0452] hunde bestimmt. Blättert man in demselben, so entdeckt man, daß zu den Grundwahrheiten des politischen Glaubens der Deutschen der Widerwillen gegen den Ausgleich, die Abneigung gegen die erhöhte Geltung Ungarns und der Wunsch nach einer Verfassungsänderung gehören. Daß vollends die Slaven in der Achtung der Deutschen nicht hoch stehen, ihr Dasein in Oest¬ reich als eine wahre Landescalamität angesehen wird, ist ebenso bekannt, wie daß die Slaven aller Zungen den Haß und die Verachtung mit Wucher¬ zinsen den Deutschen zurückzahlen. Auf dem Boden, wo die giftige Saat der nationalen Feindschaft durch zwei Jahrzehnte gepflegt wurde, gedeiht keine föderative Verfassung. Ebenso gut könnte man in einem Lande die religiöse Toleranz einführen, wo nur verfolgungslustige ^Secten wohnen und jede die andere als Ketzer für todeswürdig achtet. Ein weiteres Hinderniß der Umwandlung der deutsch-slavischen Provinzen in einen Bundesstaat endlich ist die veränderte Stellung Wiens zu den Provinzen. Die Hauptstadt hat seit 1848 nicht allein einen überraschenden materiellen Ausschwung genommen, sondern auch eine politische Bedeutung gewonnen, die wir in dieser Weise früher nicht kannten. Während und un¬ mittelbar nach der Revolution konnte in liberalen Kreisen ernstlich der Ge¬ danke erwogen werden, ob es nicht räthlich wäre, den Sitz der Reichsregierung von Wien weg — nach Ungarn — zu verlegen; heute müßte der Plan, die Centralbehörde und die Centralvertretung der nichtungarischen Länder aus Wien zu entfernen, verlacht werden. Gewiß ist das Bild des gegenwärtigen Wien nicht frei von dunkeln, breiten Schatten. Die hohe Aristokratie ist unter die Juden gegangen, die Börse ist ein Adelscafino geworden, an der wirthschaftlichen Entwickelung hängt arger Schwindelgeist, die Corruption -pocht auf die Zugänglichkeit aller Kreise, die vorherrschende politische Halb¬ bildung erscheint unfähig, dem rohen Radicalismus (Je toller desto freier ist seine Devise) eine feste Schranke entgegenzustellen, die Zeitungspresse hat sich in einen Gegenstand geschäftlicher Speculation verwandelt, bei welcher der Wahrheit nicht immer der höchste Waarenwerth zugemessen wird. Diese und viele andere Beschuldigungen kann man tagtäglich hören, ohne sie stets widerlegen zu können. Auf der andern Seite ist aber Wien mehr als jemals der maßgebende Mittelpunkt der deutschen Bevölkerung ganz Oestreichs ge¬ worden. Die Deutschböhmen, die Deutschen Steiermarks, die liberalen Deut¬ schen in Tirol suchen ihre Stärke und finden ihre Stütze mehr in Wien als in ihrer engeren Heimath, sie steigern dadurch nicht allein das Gewicht Wiens in der politischen Welt, sondern verleihen auch der öffentlichen Mei¬ nung Wiens das Gepräge der Allgemeingiltigkeit für alle Deutschen Oest¬ reichs. Wer gegen dieselbe ankämpft, hat es mit einer Macht zu thun, welche in den Regierungskreisen stark und zahlreich vertreten ist, eine kampfbereite,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/452
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/452>, abgerufen am 29.06.2024.