Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Belagerungszustand versetzt, eine in ganz Europa unerhörte Polizeiwillkür
als die allein giltige Constitution proclamirt. Und als nach einem Jahrzehnt
der Absolutismus schmachvoll in sich zusammenbrach, wurde für ein weiteres
Jahrzehnt die Aera toller Experimentalpolitik eingeweiht, die noch bis zu
dieser Stunde ihre Herrschaft nicht verloren hat. Ist unter diesen Verhält¬
nissen jetzt der rechte Augenblick für die Errichtung des östreichischen Bundes¬
staates gekommen?

Man erwäge. Zunächst muß die Föderativverfassung auf die Provinzen
beschränkt werden, welche unter dem abscheulichen Namen Cisleithanien be¬
griffen sind. An eine Theilnahme Ungarns darf man nicht denken, nachdem
dieses durch einen glücklichen Griff sich seine alte Verfassung wiedererobert
hat und mit dem größten Erfolge seine Selbständigkeit stetig erweitert. Nur
wenn die nicht magyarischen Stimmen Ungarns sich wieder gegen das herr¬
schende Volk in Waffen erheben und das letztere besiegen würden, ließe sich
die Ausdehnung des föderativem Bandes über Ungarn hoffen, obgleich es
auch dann noch fraglich wäre, ob die emancipirten Stämme nach dem alt¬
östreichischen Lande zuneigten und nicht vielmehr ihren neuen Mittelpunkt
außerhalb Oestreichs suchten. Zu einer solchen Schilderhebung ist vorläufig
keine Aussicht vorhanden, manche Zeichen berechtigen zu der Hoffnung, daß
es den Magyaren gelingen werde, die nationale Eifersucht der Kroaten, Serben
und der siebenbürger Völkerschaften zu beschwichtigen. Ungarn ist ein Ein-
heitsstaat geworden mit stärkerer Centralisation, als es vor dem Jahre 1848
besaß. Diesen Einheitsstaat unter einer gemeinsamen Krone mit den übrigen
föderativ gestalteten Provinzen zu vereinigen, erscheint bedenklich, denn es fehlt
das Gleichgewicht der beiden Glieder. Alle Macht und Kraft würde dem
ungarischen Einheitsstaat zuströmen, dieser aber seine größere Machtentfaltung
durch den Verlust des inneren Friedens erkaufen; die Regierungsstände wür¬
den sich unbedingt auf die Seite Ungarns schlagen, wo allein ihre Wirk¬
samkeit eine dankbare Stätte fände, die nicht magyarischen Stämme Ungarns
möchten aber dann schwerlich in strammen Gehorsam erhalten bleiben, son¬
dern am Beispiele ihrer Stammverwandten sich zum Wunsche, und weiter zur
Forderung eines lockeren politischen Bandes ermannen.

Ein zweites Hinderniß ist der notorische Mangel an östreichischen Ge¬
meinsinn. Unmittelbar nach der Revolution waren die Liberalen in Oestreich,
trotz der Wunden die ihnen geschlagen worden, trotz der grausamen Ver¬
folgung die sie erlitten, loyaler als gegenwärtig die meisten Conservativen.
Das ist der Fluch der Bach-Thun'schen Neactionsperiode, daß sie jeden leben¬
digen Staatsgedanken ertödtete, jede geistige Kraft lähmte, jedes ernste Bil¬
dungsstreben gewaltsam unterdrückte. -- Wenn gegenwärtig insbesondere die
Czechen das Kreuz Oestreichs bilden, keine Regierung mit ihnen fertig werden


Belagerungszustand versetzt, eine in ganz Europa unerhörte Polizeiwillkür
als die allein giltige Constitution proclamirt. Und als nach einem Jahrzehnt
der Absolutismus schmachvoll in sich zusammenbrach, wurde für ein weiteres
Jahrzehnt die Aera toller Experimentalpolitik eingeweiht, die noch bis zu
dieser Stunde ihre Herrschaft nicht verloren hat. Ist unter diesen Verhält¬
nissen jetzt der rechte Augenblick für die Errichtung des östreichischen Bundes¬
staates gekommen?

Man erwäge. Zunächst muß die Föderativverfassung auf die Provinzen
beschränkt werden, welche unter dem abscheulichen Namen Cisleithanien be¬
griffen sind. An eine Theilnahme Ungarns darf man nicht denken, nachdem
dieses durch einen glücklichen Griff sich seine alte Verfassung wiedererobert
hat und mit dem größten Erfolge seine Selbständigkeit stetig erweitert. Nur
wenn die nicht magyarischen Stimmen Ungarns sich wieder gegen das herr¬
schende Volk in Waffen erheben und das letztere besiegen würden, ließe sich
die Ausdehnung des föderativem Bandes über Ungarn hoffen, obgleich es
auch dann noch fraglich wäre, ob die emancipirten Stämme nach dem alt¬
östreichischen Lande zuneigten und nicht vielmehr ihren neuen Mittelpunkt
außerhalb Oestreichs suchten. Zu einer solchen Schilderhebung ist vorläufig
keine Aussicht vorhanden, manche Zeichen berechtigen zu der Hoffnung, daß
es den Magyaren gelingen werde, die nationale Eifersucht der Kroaten, Serben
und der siebenbürger Völkerschaften zu beschwichtigen. Ungarn ist ein Ein-
heitsstaat geworden mit stärkerer Centralisation, als es vor dem Jahre 1848
besaß. Diesen Einheitsstaat unter einer gemeinsamen Krone mit den übrigen
föderativ gestalteten Provinzen zu vereinigen, erscheint bedenklich, denn es fehlt
das Gleichgewicht der beiden Glieder. Alle Macht und Kraft würde dem
ungarischen Einheitsstaat zuströmen, dieser aber seine größere Machtentfaltung
durch den Verlust des inneren Friedens erkaufen; die Regierungsstände wür¬
den sich unbedingt auf die Seite Ungarns schlagen, wo allein ihre Wirk¬
samkeit eine dankbare Stätte fände, die nicht magyarischen Stämme Ungarns
möchten aber dann schwerlich in strammen Gehorsam erhalten bleiben, son¬
dern am Beispiele ihrer Stammverwandten sich zum Wunsche, und weiter zur
Forderung eines lockeren politischen Bandes ermannen.

Ein zweites Hinderniß ist der notorische Mangel an östreichischen Ge¬
meinsinn. Unmittelbar nach der Revolution waren die Liberalen in Oestreich,
trotz der Wunden die ihnen geschlagen worden, trotz der grausamen Ver¬
folgung die sie erlitten, loyaler als gegenwärtig die meisten Conservativen.
Das ist der Fluch der Bach-Thun'schen Neactionsperiode, daß sie jeden leben¬
digen Staatsgedanken ertödtete, jede geistige Kraft lähmte, jedes ernste Bil¬
dungsstreben gewaltsam unterdrückte. — Wenn gegenwärtig insbesondere die
Czechen das Kreuz Oestreichs bilden, keine Regierung mit ihnen fertig werden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123538"/>
          <p xml:id="ID_1283" prev="#ID_1282"> Belagerungszustand versetzt, eine in ganz Europa unerhörte Polizeiwillkür<lb/>
als die allein giltige Constitution proclamirt. Und als nach einem Jahrzehnt<lb/>
der Absolutismus schmachvoll in sich zusammenbrach, wurde für ein weiteres<lb/>
Jahrzehnt die Aera toller Experimentalpolitik eingeweiht, die noch bis zu<lb/>
dieser Stunde ihre Herrschaft nicht verloren hat. Ist unter diesen Verhält¬<lb/>
nissen jetzt der rechte Augenblick für die Errichtung des östreichischen Bundes¬<lb/>
staates gekommen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1284"> Man erwäge. Zunächst muß die Föderativverfassung auf die Provinzen<lb/>
beschränkt werden, welche unter dem abscheulichen Namen Cisleithanien be¬<lb/>
griffen sind. An eine Theilnahme Ungarns darf man nicht denken, nachdem<lb/>
dieses durch einen glücklichen Griff sich seine alte Verfassung wiedererobert<lb/>
hat und mit dem größten Erfolge seine Selbständigkeit stetig erweitert. Nur<lb/>
wenn die nicht magyarischen Stimmen Ungarns sich wieder gegen das herr¬<lb/>
schende Volk in Waffen erheben und das letztere besiegen würden, ließe sich<lb/>
die Ausdehnung des föderativem Bandes über Ungarn hoffen, obgleich es<lb/>
auch dann noch fraglich wäre, ob die emancipirten Stämme nach dem alt¬<lb/>
östreichischen Lande zuneigten und nicht vielmehr ihren neuen Mittelpunkt<lb/>
außerhalb Oestreichs suchten. Zu einer solchen Schilderhebung ist vorläufig<lb/>
keine Aussicht vorhanden, manche Zeichen berechtigen zu der Hoffnung, daß<lb/>
es den Magyaren gelingen werde, die nationale Eifersucht der Kroaten, Serben<lb/>
und der siebenbürger Völkerschaften zu beschwichtigen. Ungarn ist ein Ein-<lb/>
heitsstaat geworden mit stärkerer Centralisation, als es vor dem Jahre 1848<lb/>
besaß. Diesen Einheitsstaat unter einer gemeinsamen Krone mit den übrigen<lb/>
föderativ gestalteten Provinzen zu vereinigen, erscheint bedenklich, denn es fehlt<lb/>
das Gleichgewicht der beiden Glieder. Alle Macht und Kraft würde dem<lb/>
ungarischen Einheitsstaat zuströmen, dieser aber seine größere Machtentfaltung<lb/>
durch den Verlust des inneren Friedens erkaufen; die Regierungsstände wür¬<lb/>
den sich unbedingt auf die Seite Ungarns schlagen, wo allein ihre Wirk¬<lb/>
samkeit eine dankbare Stätte fände, die nicht magyarischen Stämme Ungarns<lb/>
möchten aber dann schwerlich in strammen Gehorsam erhalten bleiben, son¬<lb/>
dern am Beispiele ihrer Stammverwandten sich zum Wunsche, und weiter zur<lb/>
Forderung eines lockeren politischen Bandes ermannen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1285" next="#ID_1286"> Ein zweites Hinderniß ist der notorische Mangel an östreichischen Ge¬<lb/>
meinsinn. Unmittelbar nach der Revolution waren die Liberalen in Oestreich,<lb/>
trotz der Wunden die ihnen geschlagen worden, trotz der grausamen Ver¬<lb/>
folgung die sie erlitten, loyaler als gegenwärtig die meisten Conservativen.<lb/>
Das ist der Fluch der Bach-Thun'schen Neactionsperiode, daß sie jeden leben¬<lb/>
digen Staatsgedanken ertödtete, jede geistige Kraft lähmte, jedes ernste Bil¬<lb/>
dungsstreben gewaltsam unterdrückte. &#x2014; Wenn gegenwärtig insbesondere die<lb/>
Czechen das Kreuz Oestreichs bilden, keine Regierung mit ihnen fertig werden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] Belagerungszustand versetzt, eine in ganz Europa unerhörte Polizeiwillkür als die allein giltige Constitution proclamirt. Und als nach einem Jahrzehnt der Absolutismus schmachvoll in sich zusammenbrach, wurde für ein weiteres Jahrzehnt die Aera toller Experimentalpolitik eingeweiht, die noch bis zu dieser Stunde ihre Herrschaft nicht verloren hat. Ist unter diesen Verhält¬ nissen jetzt der rechte Augenblick für die Errichtung des östreichischen Bundes¬ staates gekommen? Man erwäge. Zunächst muß die Föderativverfassung auf die Provinzen beschränkt werden, welche unter dem abscheulichen Namen Cisleithanien be¬ griffen sind. An eine Theilnahme Ungarns darf man nicht denken, nachdem dieses durch einen glücklichen Griff sich seine alte Verfassung wiedererobert hat und mit dem größten Erfolge seine Selbständigkeit stetig erweitert. Nur wenn die nicht magyarischen Stimmen Ungarns sich wieder gegen das herr¬ schende Volk in Waffen erheben und das letztere besiegen würden, ließe sich die Ausdehnung des föderativem Bandes über Ungarn hoffen, obgleich es auch dann noch fraglich wäre, ob die emancipirten Stämme nach dem alt¬ östreichischen Lande zuneigten und nicht vielmehr ihren neuen Mittelpunkt außerhalb Oestreichs suchten. Zu einer solchen Schilderhebung ist vorläufig keine Aussicht vorhanden, manche Zeichen berechtigen zu der Hoffnung, daß es den Magyaren gelingen werde, die nationale Eifersucht der Kroaten, Serben und der siebenbürger Völkerschaften zu beschwichtigen. Ungarn ist ein Ein- heitsstaat geworden mit stärkerer Centralisation, als es vor dem Jahre 1848 besaß. Diesen Einheitsstaat unter einer gemeinsamen Krone mit den übrigen föderativ gestalteten Provinzen zu vereinigen, erscheint bedenklich, denn es fehlt das Gleichgewicht der beiden Glieder. Alle Macht und Kraft würde dem ungarischen Einheitsstaat zuströmen, dieser aber seine größere Machtentfaltung durch den Verlust des inneren Friedens erkaufen; die Regierungsstände wür¬ den sich unbedingt auf die Seite Ungarns schlagen, wo allein ihre Wirk¬ samkeit eine dankbare Stätte fände, die nicht magyarischen Stämme Ungarns möchten aber dann schwerlich in strammen Gehorsam erhalten bleiben, son¬ dern am Beispiele ihrer Stammverwandten sich zum Wunsche, und weiter zur Forderung eines lockeren politischen Bandes ermannen. Ein zweites Hinderniß ist der notorische Mangel an östreichischen Ge¬ meinsinn. Unmittelbar nach der Revolution waren die Liberalen in Oestreich, trotz der Wunden die ihnen geschlagen worden, trotz der grausamen Ver¬ folgung die sie erlitten, loyaler als gegenwärtig die meisten Conservativen. Das ist der Fluch der Bach-Thun'schen Neactionsperiode, daß sie jeden leben¬ digen Staatsgedanken ertödtete, jede geistige Kraft lähmte, jedes ernste Bil¬ dungsstreben gewaltsam unterdrückte. — Wenn gegenwärtig insbesondere die Czechen das Kreuz Oestreichs bilden, keine Regierung mit ihnen fertig werden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/450>, abgerufen am 29.06.2024.