Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

leidet. Die Zumuthung an Regierung und Volk in Baden ist stark, aber
die Thatsachen zeigen, daß ihnen diese Zumuthung gemacht werden kann:
Baden ist der einzige süddeutsche Staat, der die kritische Zeit gesund über¬
dauern wird. Das Problem würde aber nicht vollständig gemacht, wenn
man in seinen natürlichen Verlauf eingrisfe, wenn man "die Sahne vom
Milchtopf abnähme", oder um ein, wenn wir nicht irren, früher ge¬
brauchtes Bild zu wiederholen, wenn man die Brocken aus der Suppe heraus¬
fischen wollte. Auch der Schein eines Druckes auf die Widerstrebenden will
vermieden werden, damit schließlich das nicht zweifelhafte Resultat als die
Frucht eines natürlichen Prozesses, als ein Act lediglich innerer Politik er¬
scheine.

Damit hängt zugleich zusammen, was man den. "europäischen Charakter"
der badischen Frage genannt hat. Das Wort fiel in einer vertraulichen Ver¬
sammlung, und vielleicht war es nicht ganz glücklich gewählt. Doch hat Nie¬
mand gewagt, dasselbe etwa mit dem berüchtigten Appell an die Furcht zusammen¬
zustellen. Die Dinge liegen auch in der That nicht so, daß man im Fall
der Aufnahme Badens gleich auf eine Kriegserklärung an Deutschland ge¬
faßt sein müßte. Alles läßt annehmen, daß weder ein Chassepor, und noch
viel weniger ein Wörndlgewehr sich in Bewegung setzen würde, wenn das
Bundeskanzleramt die Sache heute für die Entscheidung reif fände. Also
auf diese Gefahr hin dürfte man es wagen und müßte man es wagen, wenn
nicht andere innere Gründe es wiederriethen. Aber unbestreitbar ist aller¬
dings dies, daß mit diesem Acte die Früchte angestrengter Bemühungen wie¬
der auf dem Spiel ständen, nämlich der Bemühungen, die öffentliche Mei¬
nung Europas für den Gedanken der deutschen Einheit zu gewinnen. Nicht
die rothen Hosen würden marschiren, aber es würde jenes Mißtrauen wieder
aufleben, das nach dem Jahr 1866 allgemein war, und damals die gespannte
Lage erzeugte, die in jedem Frühjahr sich zu Kriegsbesorgnissen steigerte.
Diese Besorgnis; von Jahr zu Jahr gründlicher zerstreut und gleichwol dem
nationalen Programm nichts vergeben zu haben, ist das hervorragende Ver¬
dienst der Bismarck'schen Staatskunst. Nach der gewaltigen Explosion deut¬
scher Kraft, die sein Wille gelenkt hatte, empfand er das Bedürfniß, das ge¬
ängstete Europa zu überzeugen, daß er weit entfernt sei, eine Aera brutaler
Gewalt eröffnen zu wollen. Man weiß, daß er erhebliche Opfer zu diesem Zwecke
nicht gescheut hat. Nach dem unvermeidlichen Wassergang mit Oestreich sollte der
Janustempel geschlossen und eben damit des Werkes Vollendung der Friedensarbeit
anvertraut sein. Und wirklich ist es dieser Politik gelungen, die Thatsache der
deutschen Einheit in das öffentliche Bewußtsein Europas einzuführen. Mehr und
mehr haben sich die anderen Nationen, Frankreich nicht ausgenommen, an den


leidet. Die Zumuthung an Regierung und Volk in Baden ist stark, aber
die Thatsachen zeigen, daß ihnen diese Zumuthung gemacht werden kann:
Baden ist der einzige süddeutsche Staat, der die kritische Zeit gesund über¬
dauern wird. Das Problem würde aber nicht vollständig gemacht, wenn
man in seinen natürlichen Verlauf eingrisfe, wenn man „die Sahne vom
Milchtopf abnähme", oder um ein, wenn wir nicht irren, früher ge¬
brauchtes Bild zu wiederholen, wenn man die Brocken aus der Suppe heraus¬
fischen wollte. Auch der Schein eines Druckes auf die Widerstrebenden will
vermieden werden, damit schließlich das nicht zweifelhafte Resultat als die
Frucht eines natürlichen Prozesses, als ein Act lediglich innerer Politik er¬
scheine.

Damit hängt zugleich zusammen, was man den. „europäischen Charakter"
der badischen Frage genannt hat. Das Wort fiel in einer vertraulichen Ver¬
sammlung, und vielleicht war es nicht ganz glücklich gewählt. Doch hat Nie¬
mand gewagt, dasselbe etwa mit dem berüchtigten Appell an die Furcht zusammen¬
zustellen. Die Dinge liegen auch in der That nicht so, daß man im Fall
der Aufnahme Badens gleich auf eine Kriegserklärung an Deutschland ge¬
faßt sein müßte. Alles läßt annehmen, daß weder ein Chassepor, und noch
viel weniger ein Wörndlgewehr sich in Bewegung setzen würde, wenn das
Bundeskanzleramt die Sache heute für die Entscheidung reif fände. Also
auf diese Gefahr hin dürfte man es wagen und müßte man es wagen, wenn
nicht andere innere Gründe es wiederriethen. Aber unbestreitbar ist aller¬
dings dies, daß mit diesem Acte die Früchte angestrengter Bemühungen wie¬
der auf dem Spiel ständen, nämlich der Bemühungen, die öffentliche Mei¬
nung Europas für den Gedanken der deutschen Einheit zu gewinnen. Nicht
die rothen Hosen würden marschiren, aber es würde jenes Mißtrauen wieder
aufleben, das nach dem Jahr 1866 allgemein war, und damals die gespannte
Lage erzeugte, die in jedem Frühjahr sich zu Kriegsbesorgnissen steigerte.
Diese Besorgnis; von Jahr zu Jahr gründlicher zerstreut und gleichwol dem
nationalen Programm nichts vergeben zu haben, ist das hervorragende Ver¬
dienst der Bismarck'schen Staatskunst. Nach der gewaltigen Explosion deut¬
scher Kraft, die sein Wille gelenkt hatte, empfand er das Bedürfniß, das ge¬
ängstete Europa zu überzeugen, daß er weit entfernt sei, eine Aera brutaler
Gewalt eröffnen zu wollen. Man weiß, daß er erhebliche Opfer zu diesem Zwecke
nicht gescheut hat. Nach dem unvermeidlichen Wassergang mit Oestreich sollte der
Janustempel geschlossen und eben damit des Werkes Vollendung der Friedensarbeit
anvertraut sein. Und wirklich ist es dieser Politik gelungen, die Thatsache der
deutschen Einheit in das öffentliche Bewußtsein Europas einzuführen. Mehr und
mehr haben sich die anderen Nationen, Frankreich nicht ausgenommen, an den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0421" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123509"/>
          <p xml:id="ID_1210" prev="#ID_1209"> leidet. Die Zumuthung an Regierung und Volk in Baden ist stark, aber<lb/>
die Thatsachen zeigen, daß ihnen diese Zumuthung gemacht werden kann:<lb/>
Baden ist der einzige süddeutsche Staat, der die kritische Zeit gesund über¬<lb/>
dauern wird. Das Problem würde aber nicht vollständig gemacht, wenn<lb/>
man in seinen natürlichen Verlauf eingrisfe, wenn man &#x201E;die Sahne vom<lb/>
Milchtopf abnähme", oder um ein, wenn wir nicht irren, früher ge¬<lb/>
brauchtes Bild zu wiederholen, wenn man die Brocken aus der Suppe heraus¬<lb/>
fischen wollte. Auch der Schein eines Druckes auf die Widerstrebenden will<lb/>
vermieden werden, damit schließlich das nicht zweifelhafte Resultat als die<lb/>
Frucht eines natürlichen Prozesses, als ein Act lediglich innerer Politik er¬<lb/>
scheine.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1211" next="#ID_1212"> Damit hängt zugleich zusammen, was man den. &#x201E;europäischen Charakter"<lb/>
der badischen Frage genannt hat. Das Wort fiel in einer vertraulichen Ver¬<lb/>
sammlung, und vielleicht war es nicht ganz glücklich gewählt. Doch hat Nie¬<lb/>
mand gewagt, dasselbe etwa mit dem berüchtigten Appell an die Furcht zusammen¬<lb/>
zustellen. Die Dinge liegen auch in der That nicht so, daß man im Fall<lb/>
der Aufnahme Badens gleich auf eine Kriegserklärung an Deutschland ge¬<lb/>
faßt sein müßte. Alles läßt annehmen, daß weder ein Chassepor, und noch<lb/>
viel weniger ein Wörndlgewehr sich in Bewegung setzen würde, wenn das<lb/>
Bundeskanzleramt die Sache heute für die Entscheidung reif fände. Also<lb/>
auf diese Gefahr hin dürfte man es wagen und müßte man es wagen, wenn<lb/>
nicht andere innere Gründe es wiederriethen. Aber unbestreitbar ist aller¬<lb/>
dings dies, daß mit diesem Acte die Früchte angestrengter Bemühungen wie¬<lb/>
der auf dem Spiel ständen, nämlich der Bemühungen, die öffentliche Mei¬<lb/>
nung Europas für den Gedanken der deutschen Einheit zu gewinnen. Nicht<lb/>
die rothen Hosen würden marschiren, aber es würde jenes Mißtrauen wieder<lb/>
aufleben, das nach dem Jahr 1866 allgemein war, und damals die gespannte<lb/>
Lage erzeugte, die in jedem Frühjahr sich zu Kriegsbesorgnissen steigerte.<lb/>
Diese Besorgnis; von Jahr zu Jahr gründlicher zerstreut und gleichwol dem<lb/>
nationalen Programm nichts vergeben zu haben, ist das hervorragende Ver¬<lb/>
dienst der Bismarck'schen Staatskunst. Nach der gewaltigen Explosion deut¬<lb/>
scher Kraft, die sein Wille gelenkt hatte, empfand er das Bedürfniß, das ge¬<lb/>
ängstete Europa zu überzeugen, daß er weit entfernt sei, eine Aera brutaler<lb/>
Gewalt eröffnen zu wollen. Man weiß, daß er erhebliche Opfer zu diesem Zwecke<lb/>
nicht gescheut hat. Nach dem unvermeidlichen Wassergang mit Oestreich sollte der<lb/>
Janustempel geschlossen und eben damit des Werkes Vollendung der Friedensarbeit<lb/>
anvertraut sein. Und wirklich ist es dieser Politik gelungen, die Thatsache der<lb/>
deutschen Einheit in das öffentliche Bewußtsein Europas einzuführen. Mehr und<lb/>
mehr haben sich die anderen Nationen, Frankreich nicht ausgenommen, an den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0421] leidet. Die Zumuthung an Regierung und Volk in Baden ist stark, aber die Thatsachen zeigen, daß ihnen diese Zumuthung gemacht werden kann: Baden ist der einzige süddeutsche Staat, der die kritische Zeit gesund über¬ dauern wird. Das Problem würde aber nicht vollständig gemacht, wenn man in seinen natürlichen Verlauf eingrisfe, wenn man „die Sahne vom Milchtopf abnähme", oder um ein, wenn wir nicht irren, früher ge¬ brauchtes Bild zu wiederholen, wenn man die Brocken aus der Suppe heraus¬ fischen wollte. Auch der Schein eines Druckes auf die Widerstrebenden will vermieden werden, damit schließlich das nicht zweifelhafte Resultat als die Frucht eines natürlichen Prozesses, als ein Act lediglich innerer Politik er¬ scheine. Damit hängt zugleich zusammen, was man den. „europäischen Charakter" der badischen Frage genannt hat. Das Wort fiel in einer vertraulichen Ver¬ sammlung, und vielleicht war es nicht ganz glücklich gewählt. Doch hat Nie¬ mand gewagt, dasselbe etwa mit dem berüchtigten Appell an die Furcht zusammen¬ zustellen. Die Dinge liegen auch in der That nicht so, daß man im Fall der Aufnahme Badens gleich auf eine Kriegserklärung an Deutschland ge¬ faßt sein müßte. Alles läßt annehmen, daß weder ein Chassepor, und noch viel weniger ein Wörndlgewehr sich in Bewegung setzen würde, wenn das Bundeskanzleramt die Sache heute für die Entscheidung reif fände. Also auf diese Gefahr hin dürfte man es wagen und müßte man es wagen, wenn nicht andere innere Gründe es wiederriethen. Aber unbestreitbar ist aller¬ dings dies, daß mit diesem Acte die Früchte angestrengter Bemühungen wie¬ der auf dem Spiel ständen, nämlich der Bemühungen, die öffentliche Mei¬ nung Europas für den Gedanken der deutschen Einheit zu gewinnen. Nicht die rothen Hosen würden marschiren, aber es würde jenes Mißtrauen wieder aufleben, das nach dem Jahr 1866 allgemein war, und damals die gespannte Lage erzeugte, die in jedem Frühjahr sich zu Kriegsbesorgnissen steigerte. Diese Besorgnis; von Jahr zu Jahr gründlicher zerstreut und gleichwol dem nationalen Programm nichts vergeben zu haben, ist das hervorragende Ver¬ dienst der Bismarck'schen Staatskunst. Nach der gewaltigen Explosion deut¬ scher Kraft, die sein Wille gelenkt hatte, empfand er das Bedürfniß, das ge¬ ängstete Europa zu überzeugen, daß er weit entfernt sei, eine Aera brutaler Gewalt eröffnen zu wollen. Man weiß, daß er erhebliche Opfer zu diesem Zwecke nicht gescheut hat. Nach dem unvermeidlichen Wassergang mit Oestreich sollte der Janustempel geschlossen und eben damit des Werkes Vollendung der Friedensarbeit anvertraut sein. Und wirklich ist es dieser Politik gelungen, die Thatsache der deutschen Einheit in das öffentliche Bewußtsein Europas einzuführen. Mehr und mehr haben sich die anderen Nationen, Frankreich nicht ausgenommen, an den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/421
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/421>, abgerufen am 20.09.2024.