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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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bedürftigkeit sich vereinigen: der Glaube ist geschwunden, daß eine politische
Schöpfung wie Athene aus dem Haupte des Zeus ersteht.

Für uns Mitlebende, wenn wir nur den Blick ungetrübt haben, ist es
eine eigene Freude eine nationale Einrichtung an die andere sich reihen, den
nationalen Staat gleichsam vor unseren Augen werden zu sehen. Selbst an
Überraschungen fehlt es dabei nicht. Das Bundesoberhandelsgericht, so oft es
auch verlangt und gefordert worden war, trat so unversehens in die Wirklich¬
keit, daß es wie ein Geschenk erschien. Aehnlich erging es mit dem Aus¬
wärtigen Amt, das noch vor Jahresfrist in unbestimmter Ferne sich zeigte
und dann rasch Gestalt gewann. Ist in so ernsten Dingen das Gefühl der
Neugierde gestattet, so drängt sich die Frage auf, was wir zunächst zu erwarten
haben, welche Erweiterung des Bundesorganismus zunächst in Aussicht ge¬
nommen werden kann.

Nach natürlichen Gesetzen hat sich das Bundesleben in den hinter uns
liegenden Jahren entwickelt. Zwei große Bedürfnisse waren zu befriedigen
und sind zum großen Theile befriedigt worden. Nach außen mußte der Bund
als völkerrechtliche Persönlichkeit zur Anerkennung und Geltung gebracht,
Diplomatie und Consularwesen mußten entsprechend umgestaltet und erwei¬
tert, die neue Flagge mußte auf den Weltmeeren entfaltet werden. Es war
nothwendig, in die fernsten Gegenden Kunde von dem Wiedererstehen der
Nation zu senden und dem Bewußtsein der überall verstreuten Volksgenossen
den schmerzlich entbehrten Rückhalt zu geben. Wie dies gelungen, wie die
Landsleute in allen Welttheilen mit sicherem Jnstincte die staatliche Um¬
wandlung des Heimathslandes ergriffen und erfaßt haben, wird immer zu den
schönsten Ereignissen unserer Zeitgeschichte gehören. Größer, mühsamer und
langwieriger war und ist die Arbeit im Innern, die Entwickelung der
bundesrechtlichen Persönlichkeit des Bundes. Verwirklichung des Artikels 3
der Bundesverfassung hieß das Programm, dessen Ausführung die Bundes¬
gesetzgebung mehrfach in Anspruch genommen hat und noch in Anspruch
nimmt. Es ist frisch im Gedächtniß, was der Bund theils gewährt hat,
theils noch gewähren wird. Wenn das Bewußtsein dieser nationalen Güter
nicht so allgemein verbreitet, nicht fo dankbar anerkannt ist, wie es sein
sollte, mag daran Schuld tragen, daß wir -- im Essen Appetit bekommen
haben und inmitten aller Neuerungen, inmitten der schweren Nöthe der
letzten Jahre noch nicht zu gleichmäßig gestimmter Anschauung der jungen
staatlichen Zustände gediehen sind.

Sehen wir von der im Werk begriffenen Umgestaltung der Rechtsgesetz¬
gebung, eines schon zu Zeiten des alten Bundes begonnenen Unternehmens
ab, so bietet sich für die Thätigkeit des Bundes als dritte große Aufgabe, die
ebenfalls bereits die Bundesfaetoren beschäftigt hat, aber über der Fülle an-


bedürftigkeit sich vereinigen: der Glaube ist geschwunden, daß eine politische
Schöpfung wie Athene aus dem Haupte des Zeus ersteht.

Für uns Mitlebende, wenn wir nur den Blick ungetrübt haben, ist es
eine eigene Freude eine nationale Einrichtung an die andere sich reihen, den
nationalen Staat gleichsam vor unseren Augen werden zu sehen. Selbst an
Überraschungen fehlt es dabei nicht. Das Bundesoberhandelsgericht, so oft es
auch verlangt und gefordert worden war, trat so unversehens in die Wirklich¬
keit, daß es wie ein Geschenk erschien. Aehnlich erging es mit dem Aus¬
wärtigen Amt, das noch vor Jahresfrist in unbestimmter Ferne sich zeigte
und dann rasch Gestalt gewann. Ist in so ernsten Dingen das Gefühl der
Neugierde gestattet, so drängt sich die Frage auf, was wir zunächst zu erwarten
haben, welche Erweiterung des Bundesorganismus zunächst in Aussicht ge¬
nommen werden kann.

Nach natürlichen Gesetzen hat sich das Bundesleben in den hinter uns
liegenden Jahren entwickelt. Zwei große Bedürfnisse waren zu befriedigen
und sind zum großen Theile befriedigt worden. Nach außen mußte der Bund
als völkerrechtliche Persönlichkeit zur Anerkennung und Geltung gebracht,
Diplomatie und Consularwesen mußten entsprechend umgestaltet und erwei¬
tert, die neue Flagge mußte auf den Weltmeeren entfaltet werden. Es war
nothwendig, in die fernsten Gegenden Kunde von dem Wiedererstehen der
Nation zu senden und dem Bewußtsein der überall verstreuten Volksgenossen
den schmerzlich entbehrten Rückhalt zu geben. Wie dies gelungen, wie die
Landsleute in allen Welttheilen mit sicherem Jnstincte die staatliche Um¬
wandlung des Heimathslandes ergriffen und erfaßt haben, wird immer zu den
schönsten Ereignissen unserer Zeitgeschichte gehören. Größer, mühsamer und
langwieriger war und ist die Arbeit im Innern, die Entwickelung der
bundesrechtlichen Persönlichkeit des Bundes. Verwirklichung des Artikels 3
der Bundesverfassung hieß das Programm, dessen Ausführung die Bundes¬
gesetzgebung mehrfach in Anspruch genommen hat und noch in Anspruch
nimmt. Es ist frisch im Gedächtniß, was der Bund theils gewährt hat,
theils noch gewähren wird. Wenn das Bewußtsein dieser nationalen Güter
nicht so allgemein verbreitet, nicht fo dankbar anerkannt ist, wie es sein
sollte, mag daran Schuld tragen, daß wir — im Essen Appetit bekommen
haben und inmitten aller Neuerungen, inmitten der schweren Nöthe der
letzten Jahre noch nicht zu gleichmäßig gestimmter Anschauung der jungen
staatlichen Zustände gediehen sind.

Sehen wir von der im Werk begriffenen Umgestaltung der Rechtsgesetz¬
gebung, eines schon zu Zeiten des alten Bundes begonnenen Unternehmens
ab, so bietet sich für die Thätigkeit des Bundes als dritte große Aufgabe, die
ebenfalls bereits die Bundesfaetoren beschäftigt hat, aber über der Fülle an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/408>, abgerufen am 29.06.2024.