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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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1870. Daß der Bundesrath dem Art. II. und III. des Einführungsgesetzes
eine den Anschauungen unserer Schrift entsprechende Fassung gegeben hat,
dürfte hiernach zunächst als der einzige Erfolg einer werthvollen wissenschaft¬
lichen Arbeit zu verzeichnen sein. Im Reichstag werden politische Prinzipien
vielleicht mit einigem Geräusch aufeinanderplatzen. An dem Detail zu bessern
wird es voraussichtlich ebenso an Zeit, wie an Neigung fehlen.


O. M.


Stiftungsrechts ^ Reform.

In die Willkür des Stifters hat der Staat bisher in der Regel nur
eingegriffen, um sich und die Interessen der Gesellschaft im Allgemeinen gegen
kirchliche Uebergriffe zu schützen. Jetzt beginnt sich die Forderung an ihn
vom Standpunkt rationeller Armenpflege zu erheben, wobei es denn freilich
nicht leicht ausbleiben kann, daß die Kirche in Mitleidenschaft geräth. Aber
neue Beweggründe und Aussichten färben vermöge des veränderten Aus¬
gangspunkts den alten Kampf. Eine anders geartete Bewegung für Stiftungs-
Reform, als sie z. B. Belgien und Piemont ihrer Zeit durchgemacht haben,
fängt an durch Deutschland ihre Wellenlinien zu erstrecken.

Zuerst hat sie sich schon vor reichlich einem Vierteljahrhundert Lübecks
bemächtigt. Das ehemalige Haupt der Hansa erfreut sich des zweifelhaften
Segens, ein ganz außerordentlich großes Stiftungsvermögen zu besitzen. Sie
blühte am üppigsten gerade in der Zeit, wo die öffentliche Freigebigkeit, zumal
in protestantischen Gegenden, vorzugsweise die Richtung auf Fürsorge für die
Armen annahm; und seitdem in Folge dessen zahlreiche bedeutende Wohl¬
thätigkeitsstiftungen gemacht wurden, hat die Stadt nicht nur an Reichthum
und Gedeihen, sondern selbst an Bevölkerung abgenommen. Die deponirten
Fonds vertheilen folglich ihre Zinsen jetzt auf eine geringere Volksmenge
als für die sie ursprünglich bestimmt waren. Nun denke man sich, was
daraus hervorgehen mußte, wenn dieses Wohlthätigkeitscapital in zahlreiche
einzelne Stiftungen zerfiel, jede derselben aber vollkommen unabhängig da¬
stand und ihren besonderen Verwalter hatte. An die Beobachtung gleicher
Grundsätze, ja an die durchgängige Beobachtung von Grundsätzen überhaupt
war natürlich nicht zu denken. Jeder Stiftungsverwalter folgte seinen eige¬
nen Gesichtspunkten. Keiner wußte vom Andern oder kümmerte sich um den
Andern. Dreiste und verschmitzte Personen vermochten sich ihre Lebensnoth-


1870. Daß der Bundesrath dem Art. II. und III. des Einführungsgesetzes
eine den Anschauungen unserer Schrift entsprechende Fassung gegeben hat,
dürfte hiernach zunächst als der einzige Erfolg einer werthvollen wissenschaft¬
lichen Arbeit zu verzeichnen sein. Im Reichstag werden politische Prinzipien
vielleicht mit einigem Geräusch aufeinanderplatzen. An dem Detail zu bessern
wird es voraussichtlich ebenso an Zeit, wie an Neigung fehlen.


O. M.


Stiftungsrechts ^ Reform.

In die Willkür des Stifters hat der Staat bisher in der Regel nur
eingegriffen, um sich und die Interessen der Gesellschaft im Allgemeinen gegen
kirchliche Uebergriffe zu schützen. Jetzt beginnt sich die Forderung an ihn
vom Standpunkt rationeller Armenpflege zu erheben, wobei es denn freilich
nicht leicht ausbleiben kann, daß die Kirche in Mitleidenschaft geräth. Aber
neue Beweggründe und Aussichten färben vermöge des veränderten Aus¬
gangspunkts den alten Kampf. Eine anders geartete Bewegung für Stiftungs-
Reform, als sie z. B. Belgien und Piemont ihrer Zeit durchgemacht haben,
fängt an durch Deutschland ihre Wellenlinien zu erstrecken.

Zuerst hat sie sich schon vor reichlich einem Vierteljahrhundert Lübecks
bemächtigt. Das ehemalige Haupt der Hansa erfreut sich des zweifelhaften
Segens, ein ganz außerordentlich großes Stiftungsvermögen zu besitzen. Sie
blühte am üppigsten gerade in der Zeit, wo die öffentliche Freigebigkeit, zumal
in protestantischen Gegenden, vorzugsweise die Richtung auf Fürsorge für die
Armen annahm; und seitdem in Folge dessen zahlreiche bedeutende Wohl¬
thätigkeitsstiftungen gemacht wurden, hat die Stadt nicht nur an Reichthum
und Gedeihen, sondern selbst an Bevölkerung abgenommen. Die deponirten
Fonds vertheilen folglich ihre Zinsen jetzt auf eine geringere Volksmenge
als für die sie ursprünglich bestimmt waren. Nun denke man sich, was
daraus hervorgehen mußte, wenn dieses Wohlthätigkeitscapital in zahlreiche
einzelne Stiftungen zerfiel, jede derselben aber vollkommen unabhängig da¬
stand und ihren besonderen Verwalter hatte. An die Beobachtung gleicher
Grundsätze, ja an die durchgängige Beobachtung von Grundsätzen überhaupt
war natürlich nicht zu denken. Jeder Stiftungsverwalter folgte seinen eige¬
nen Gesichtspunkten. Keiner wußte vom Andern oder kümmerte sich um den
Andern. Dreiste und verschmitzte Personen vermochten sich ihre Lebensnoth-


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[0388] 1870. Daß der Bundesrath dem Art. II. und III. des Einführungsgesetzes eine den Anschauungen unserer Schrift entsprechende Fassung gegeben hat, dürfte hiernach zunächst als der einzige Erfolg einer werthvollen wissenschaft¬ lichen Arbeit zu verzeichnen sein. Im Reichstag werden politische Prinzipien vielleicht mit einigem Geräusch aufeinanderplatzen. An dem Detail zu bessern wird es voraussichtlich ebenso an Zeit, wie an Neigung fehlen. O. M. Stiftungsrechts ^ Reform. In die Willkür des Stifters hat der Staat bisher in der Regel nur eingegriffen, um sich und die Interessen der Gesellschaft im Allgemeinen gegen kirchliche Uebergriffe zu schützen. Jetzt beginnt sich die Forderung an ihn vom Standpunkt rationeller Armenpflege zu erheben, wobei es denn freilich nicht leicht ausbleiben kann, daß die Kirche in Mitleidenschaft geräth. Aber neue Beweggründe und Aussichten färben vermöge des veränderten Aus¬ gangspunkts den alten Kampf. Eine anders geartete Bewegung für Stiftungs- Reform, als sie z. B. Belgien und Piemont ihrer Zeit durchgemacht haben, fängt an durch Deutschland ihre Wellenlinien zu erstrecken. Zuerst hat sie sich schon vor reichlich einem Vierteljahrhundert Lübecks bemächtigt. Das ehemalige Haupt der Hansa erfreut sich des zweifelhaften Segens, ein ganz außerordentlich großes Stiftungsvermögen zu besitzen. Sie blühte am üppigsten gerade in der Zeit, wo die öffentliche Freigebigkeit, zumal in protestantischen Gegenden, vorzugsweise die Richtung auf Fürsorge für die Armen annahm; und seitdem in Folge dessen zahlreiche bedeutende Wohl¬ thätigkeitsstiftungen gemacht wurden, hat die Stadt nicht nur an Reichthum und Gedeihen, sondern selbst an Bevölkerung abgenommen. Die deponirten Fonds vertheilen folglich ihre Zinsen jetzt auf eine geringere Volksmenge als für die sie ursprünglich bestimmt waren. Nun denke man sich, was daraus hervorgehen mußte, wenn dieses Wohlthätigkeitscapital in zahlreiche einzelne Stiftungen zerfiel, jede derselben aber vollkommen unabhängig da¬ stand und ihren besonderen Verwalter hatte. An die Beobachtung gleicher Grundsätze, ja an die durchgängige Beobachtung von Grundsätzen überhaupt war natürlich nicht zu denken. Jeder Stiftungsverwalter folgte seinen eige¬ nen Gesichtspunkten. Keiner wußte vom Andern oder kümmerte sich um den Andern. Dreiste und verschmitzte Personen vermochten sich ihre Lebensnoth-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/388>, abgerufen am 26.06.2024.