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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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welche das Verbrechen selbständigen Hoch- und Landesverrats geübt und
gedacht werden kann, oder ist dies nicht mehr der Fall? Die Bundesstaatlich-
Constitutionellen, mit ihnen Herr Professor Heinze, bejahen selbstverständlich
die erste Alternative; sie haben den Wortlaut der Bundesverfassung, den
äußeren Schein des Bundesstaats und das historische Recht für sich. Sie
halten fest an dem Gedanken, daß der den Particularstaaten verbliebene, an
den Bund nicht ausdrücklich abgetretene Rest ihrer ehemaligen Hoheits¬
substanz ihnen fortgesetzt als selbständige, nicht von der Bundesgewalt abge¬
leitete Souveränität verblieben ist. Der preußisch-unitarische Standpunkt,
ausgehend von der Realität der im Bunde thatsächlich wirkenden Kräfte,
führt nothwendig zu dem entgegengesetzten Schluß. Darnach gibt es im
Bunde nur noch eine wahrhafte Souveränität. Die der Krone Preußen.
Die partikularen Gemeinwesen sind bereits heute so aller wesentlichen staat¬
lichen Kraft entkleidete Gebilde, im Recht wie in der Macht, dem Mili¬
tärwesen wie der Gesetzgebung so sehr aller Individualität entbehrend, daß
sie füglich nur noch als integrirende Bestandtheile der geltenden öffent¬
lichen Bundesordnung, platterdings aber nicht mehr als Staaten im Straf¬
recht anzuerkennen sind. Des oeufs viäss of sont plus etes vents. Der
Unsinn kann nicht von langer Dauer sein, daß nach Bundesstrafrecht der
Deutsche, der dem Fürsten von Waldeck in seinem Ländchen eine Realinjurie
zufügt, oder die "Staatsgeheimnisse" von Braunschweig etwa an Preußen
ausplaudert, oder sich für die Annexion des Staates "Reuß" der älteren
oder jüngeren Linie an den Nachbar begeistert, vor allen deutschen Gerichts¬
höfen wegen Hoch- und Landesverraths sich zu verantworten haben soll.
Dem sächsischen Localpatriotismus kann darin immerhin einiges zu Gute
gerechnet werden, wenn er im Interesse seiner Eigenart und Vergangenheit
darauf besteht, es sei Sache der particulären Landesgesetzgebung, die gegen
die höchsteigene particuläre Staatsindividualität zu begehenden strafbaren
Handlungen zu qualificiren und zu ahnden. Nur darf aus einer exceptio¬
nellen Rücksicht auf die im Jahre 1866 obwaltenden Verhältnisse des König¬
reichs Sachsen nicht eine generelle bundesstaatsliche Prätension gemacht
werden. Die Tage der particulären Staatsunterthänigkeit sind gezählt. Haben
es sich schon im vorliegenden Entwurf die Senate der Freien Städte gefallen
lassen müssen, aus der Reihe der souveränen Mächte strafrechtlich auszuschei¬
den, so wird der regierende hohe Adel deutscher Nation sich wohl auf die¬
selbe Wandlung vorzubereiten haben. Einer zukünftigen Revision des Bun-
desstrafrechts mag es dann vorbehalten bleiben, unter einen neuen Titel
"Vergehen wider die Bundesordnung" Alles zusammenzufassen, was zum
Schutz der particulären und provinziellen Autonomie an besonderen straf¬
rechtlichen Vorschriften erforderlich erscheint.


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welche das Verbrechen selbständigen Hoch- und Landesverrats geübt und
gedacht werden kann, oder ist dies nicht mehr der Fall? Die Bundesstaatlich-
Constitutionellen, mit ihnen Herr Professor Heinze, bejahen selbstverständlich
die erste Alternative; sie haben den Wortlaut der Bundesverfassung, den
äußeren Schein des Bundesstaats und das historische Recht für sich. Sie
halten fest an dem Gedanken, daß der den Particularstaaten verbliebene, an
den Bund nicht ausdrücklich abgetretene Rest ihrer ehemaligen Hoheits¬
substanz ihnen fortgesetzt als selbständige, nicht von der Bundesgewalt abge¬
leitete Souveränität verblieben ist. Der preußisch-unitarische Standpunkt,
ausgehend von der Realität der im Bunde thatsächlich wirkenden Kräfte,
führt nothwendig zu dem entgegengesetzten Schluß. Darnach gibt es im
Bunde nur noch eine wahrhafte Souveränität. Die der Krone Preußen.
Die partikularen Gemeinwesen sind bereits heute so aller wesentlichen staat¬
lichen Kraft entkleidete Gebilde, im Recht wie in der Macht, dem Mili¬
tärwesen wie der Gesetzgebung so sehr aller Individualität entbehrend, daß
sie füglich nur noch als integrirende Bestandtheile der geltenden öffent¬
lichen Bundesordnung, platterdings aber nicht mehr als Staaten im Straf¬
recht anzuerkennen sind. Des oeufs viäss of sont plus etes vents. Der
Unsinn kann nicht von langer Dauer sein, daß nach Bundesstrafrecht der
Deutsche, der dem Fürsten von Waldeck in seinem Ländchen eine Realinjurie
zufügt, oder die „Staatsgeheimnisse" von Braunschweig etwa an Preußen
ausplaudert, oder sich für die Annexion des Staates „Reuß" der älteren
oder jüngeren Linie an den Nachbar begeistert, vor allen deutschen Gerichts¬
höfen wegen Hoch- und Landesverraths sich zu verantworten haben soll.
Dem sächsischen Localpatriotismus kann darin immerhin einiges zu Gute
gerechnet werden, wenn er im Interesse seiner Eigenart und Vergangenheit
darauf besteht, es sei Sache der particulären Landesgesetzgebung, die gegen
die höchsteigene particuläre Staatsindividualität zu begehenden strafbaren
Handlungen zu qualificiren und zu ahnden. Nur darf aus einer exceptio¬
nellen Rücksicht auf die im Jahre 1866 obwaltenden Verhältnisse des König¬
reichs Sachsen nicht eine generelle bundesstaatsliche Prätension gemacht
werden. Die Tage der particulären Staatsunterthänigkeit sind gezählt. Haben
es sich schon im vorliegenden Entwurf die Senate der Freien Städte gefallen
lassen müssen, aus der Reihe der souveränen Mächte strafrechtlich auszuschei¬
den, so wird der regierende hohe Adel deutscher Nation sich wohl auf die¬
selbe Wandlung vorzubereiten haben. Einer zukünftigen Revision des Bun-
desstrafrechts mag es dann vorbehalten bleiben, unter einen neuen Titel
„Vergehen wider die Bundesordnung" Alles zusammenzufassen, was zum
Schutz der particulären und provinziellen Autonomie an besonderen straf¬
rechtlichen Vorschriften erforderlich erscheint.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/385>, abgerufen am 29.06.2024.