Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wir sindlim Begriff, auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts einen
großen und entscheidenden Schritt zur Unification zu thun. Der Augenblick
ist bedeutungsvoll genug, um sich die Tragweite des Vorhabens ins Be¬
wußtsein zu rufen. Die Wege, die wir zum Einheitsstaate wandeln, sind
wahrlich nicht die gradesten, nicht die kürzesten, auch nicht die dem Naturell
der deutschen Race am meisten zusagenden -- wollte Gott, wir wären nicht
so ausschließlich auf sie hingedrängt! Da es der Gründung des Bundes
eigenthümlich war, die Centralgewalt schwach, unentwickelt, ohne jede orga¬
nische Gliederung über die anscheinend intact gelassenen sonderstaatlichen Sou-
veränetäten zu skizziren, die Reichsgesetzgebung aber in üppigster demokrati¬
scher Fülle, ausgedehnt, mit weitgesteckten Herrschaftsgrenzen zu stabiliren, so
ist die Fortentwickelung des Bundes unnatürlich auf eine überspannte Action
der legislativen Maschinerie hingewiesen. Der directe Weg ist so gut, wie
verschlossen, beispielsweise im Bereich des bürgerlichen Rechts die Grundlagen
einer Bundesgerichtsverfassung in großen Zügen constitutionell durchzuführen,
mit gleichmäßiger Gerichtsorganisation, Reichsgerichten, einem eigentlichen
Reichskanzler im alten historischen Sinne, und was sonst dazu gehören würde.
So werfen wir uns mit aller Macht auf den gefügigsten Stoff des materiellen
Rechts, versuchen es hier mit einer straff einheitlichen Codification, unbeküm¬
mert um alle particuläre Rechtsentwickelung legitimer und illegitimer Art,
immer nur den politischen Zweck im Auge, hierdurch erst ebenen Boden
für weiteres Organisationswerk zu gewinnen. Es geschieht in Hast und
Eile; das Bedürfniß, aus dem unfertigen, verworrenen, unhaltbaren Bau
dieses soi-Äisg-ut Bundes herauszukommen, ebenso wie das stets wache Mi߬
trauen gegen die Sondergelüste der Bundesgenossen treibt ruhelos vorwärts.
Es kommt nicht daraus an, ob solche Legislativ" zunächst den staatsrecht¬
lichen Wirrwarr steigert, ob absolut unlösbare politisch-juristische Räthsel ge¬
schaffen, und die Natur der selbständigen Staatsindividualitäten unerträglich
Problematisch wird. Wenn nur die Kugel vorwärts rollt und ein neuer
Reifen um das zerbrechliche Gefüge geschlagen ist! Was geschieht, ist hier
nur klar, das Warum wird offenbar, wenn die Todten auferstehen -- und
mit ihnen das deutsche Reich in seiner alten Herrlichkeit.

Das Letzte ist nun freilich ein schlechtes Citat aus der deutschen Schick¬
salstragödie. Aber es ist nicht leicht eine bessere Antwort auf eine Reihe
von Fragen zu finden, welche den oben erwähnten "Erörterungen" im Vor¬
wort vorausgeschickt sind. Ob der revidirte Entwurf des norddeutschen
Strafgesetzbuchs nicht mit etwas geringerem Hochdruck durch Bundesrath
und Reichstag durchzupeitschen wäre, ob er ohne Lebensgefahr zum Nutzen
und Frommen der Fachkritik nicht auch noch bis ins Jahr 1871 warten
könnte, ob er in seiner jetzigen Gestalt nicht ungeeignet ist, moralische Er-


Wir sindlim Begriff, auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts einen
großen und entscheidenden Schritt zur Unification zu thun. Der Augenblick
ist bedeutungsvoll genug, um sich die Tragweite des Vorhabens ins Be¬
wußtsein zu rufen. Die Wege, die wir zum Einheitsstaate wandeln, sind
wahrlich nicht die gradesten, nicht die kürzesten, auch nicht die dem Naturell
der deutschen Race am meisten zusagenden — wollte Gott, wir wären nicht
so ausschließlich auf sie hingedrängt! Da es der Gründung des Bundes
eigenthümlich war, die Centralgewalt schwach, unentwickelt, ohne jede orga¬
nische Gliederung über die anscheinend intact gelassenen sonderstaatlichen Sou-
veränetäten zu skizziren, die Reichsgesetzgebung aber in üppigster demokrati¬
scher Fülle, ausgedehnt, mit weitgesteckten Herrschaftsgrenzen zu stabiliren, so
ist die Fortentwickelung des Bundes unnatürlich auf eine überspannte Action
der legislativen Maschinerie hingewiesen. Der directe Weg ist so gut, wie
verschlossen, beispielsweise im Bereich des bürgerlichen Rechts die Grundlagen
einer Bundesgerichtsverfassung in großen Zügen constitutionell durchzuführen,
mit gleichmäßiger Gerichtsorganisation, Reichsgerichten, einem eigentlichen
Reichskanzler im alten historischen Sinne, und was sonst dazu gehören würde.
So werfen wir uns mit aller Macht auf den gefügigsten Stoff des materiellen
Rechts, versuchen es hier mit einer straff einheitlichen Codification, unbeküm¬
mert um alle particuläre Rechtsentwickelung legitimer und illegitimer Art,
immer nur den politischen Zweck im Auge, hierdurch erst ebenen Boden
für weiteres Organisationswerk zu gewinnen. Es geschieht in Hast und
Eile; das Bedürfniß, aus dem unfertigen, verworrenen, unhaltbaren Bau
dieses soi-Äisg-ut Bundes herauszukommen, ebenso wie das stets wache Mi߬
trauen gegen die Sondergelüste der Bundesgenossen treibt ruhelos vorwärts.
Es kommt nicht daraus an, ob solche Legislativ» zunächst den staatsrecht¬
lichen Wirrwarr steigert, ob absolut unlösbare politisch-juristische Räthsel ge¬
schaffen, und die Natur der selbständigen Staatsindividualitäten unerträglich
Problematisch wird. Wenn nur die Kugel vorwärts rollt und ein neuer
Reifen um das zerbrechliche Gefüge geschlagen ist! Was geschieht, ist hier
nur klar, das Warum wird offenbar, wenn die Todten auferstehen — und
mit ihnen das deutsche Reich in seiner alten Herrlichkeit.

Das Letzte ist nun freilich ein schlechtes Citat aus der deutschen Schick¬
salstragödie. Aber es ist nicht leicht eine bessere Antwort auf eine Reihe
von Fragen zu finden, welche den oben erwähnten „Erörterungen" im Vor¬
wort vorausgeschickt sind. Ob der revidirte Entwurf des norddeutschen
Strafgesetzbuchs nicht mit etwas geringerem Hochdruck durch Bundesrath
und Reichstag durchzupeitschen wäre, ob er ohne Lebensgefahr zum Nutzen
und Frommen der Fachkritik nicht auch noch bis ins Jahr 1871 warten
könnte, ob er in seiner jetzigen Gestalt nicht ungeeignet ist, moralische Er-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0381" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123469"/>
          <p xml:id="ID_1095"> Wir sindlim Begriff, auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts einen<lb/>
großen und entscheidenden Schritt zur Unification zu thun. Der Augenblick<lb/>
ist bedeutungsvoll genug, um sich die Tragweite des Vorhabens ins Be¬<lb/>
wußtsein zu rufen. Die Wege, die wir zum Einheitsstaate wandeln, sind<lb/>
wahrlich nicht die gradesten, nicht die kürzesten, auch nicht die dem Naturell<lb/>
der deutschen Race am meisten zusagenden &#x2014; wollte Gott, wir wären nicht<lb/>
so ausschließlich auf sie hingedrängt! Da es der Gründung des Bundes<lb/>
eigenthümlich war, die Centralgewalt schwach, unentwickelt, ohne jede orga¬<lb/>
nische Gliederung über die anscheinend intact gelassenen sonderstaatlichen Sou-<lb/>
veränetäten zu skizziren, die Reichsgesetzgebung aber in üppigster demokrati¬<lb/>
scher Fülle, ausgedehnt, mit weitgesteckten Herrschaftsgrenzen zu stabiliren, so<lb/>
ist die Fortentwickelung des Bundes unnatürlich auf eine überspannte Action<lb/>
der legislativen Maschinerie hingewiesen. Der directe Weg ist so gut, wie<lb/>
verschlossen, beispielsweise im Bereich des bürgerlichen Rechts die Grundlagen<lb/>
einer Bundesgerichtsverfassung in großen Zügen constitutionell durchzuführen,<lb/>
mit gleichmäßiger Gerichtsorganisation, Reichsgerichten, einem eigentlichen<lb/>
Reichskanzler im alten historischen Sinne, und was sonst dazu gehören würde.<lb/>
So werfen wir uns mit aller Macht auf den gefügigsten Stoff des materiellen<lb/>
Rechts, versuchen es hier mit einer straff einheitlichen Codification, unbeküm¬<lb/>
mert um alle particuläre Rechtsentwickelung legitimer und illegitimer Art,<lb/>
immer nur den politischen Zweck im Auge, hierdurch erst ebenen Boden<lb/>
für weiteres Organisationswerk zu gewinnen. Es geschieht in Hast und<lb/>
Eile; das Bedürfniß, aus dem unfertigen, verworrenen, unhaltbaren Bau<lb/>
dieses soi-Äisg-ut Bundes herauszukommen, ebenso wie das stets wache Mi߬<lb/>
trauen gegen die Sondergelüste der Bundesgenossen treibt ruhelos vorwärts.<lb/>
Es kommt nicht daraus an, ob solche Legislativ» zunächst den staatsrecht¬<lb/>
lichen Wirrwarr steigert, ob absolut unlösbare politisch-juristische Räthsel ge¬<lb/>
schaffen, und die Natur der selbständigen Staatsindividualitäten unerträglich<lb/>
Problematisch wird. Wenn nur die Kugel vorwärts rollt und ein neuer<lb/>
Reifen um das zerbrechliche Gefüge geschlagen ist! Was geschieht, ist hier<lb/>
nur klar, das Warum wird offenbar, wenn die Todten auferstehen &#x2014; und<lb/>
mit ihnen das deutsche Reich in seiner alten Herrlichkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1096" next="#ID_1097"> Das Letzte ist nun freilich ein schlechtes Citat aus der deutschen Schick¬<lb/>
salstragödie. Aber es ist nicht leicht eine bessere Antwort auf eine Reihe<lb/>
von Fragen zu finden, welche den oben erwähnten &#x201E;Erörterungen" im Vor¬<lb/>
wort vorausgeschickt sind. Ob der revidirte Entwurf des norddeutschen<lb/>
Strafgesetzbuchs nicht mit etwas geringerem Hochdruck durch Bundesrath<lb/>
und Reichstag durchzupeitschen wäre, ob er ohne Lebensgefahr zum Nutzen<lb/>
und Frommen der Fachkritik nicht auch noch bis ins Jahr 1871 warten<lb/>
könnte, ob er in seiner jetzigen Gestalt nicht ungeeignet ist, moralische Er-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0381] Wir sindlim Begriff, auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts einen großen und entscheidenden Schritt zur Unification zu thun. Der Augenblick ist bedeutungsvoll genug, um sich die Tragweite des Vorhabens ins Be¬ wußtsein zu rufen. Die Wege, die wir zum Einheitsstaate wandeln, sind wahrlich nicht die gradesten, nicht die kürzesten, auch nicht die dem Naturell der deutschen Race am meisten zusagenden — wollte Gott, wir wären nicht so ausschließlich auf sie hingedrängt! Da es der Gründung des Bundes eigenthümlich war, die Centralgewalt schwach, unentwickelt, ohne jede orga¬ nische Gliederung über die anscheinend intact gelassenen sonderstaatlichen Sou- veränetäten zu skizziren, die Reichsgesetzgebung aber in üppigster demokrati¬ scher Fülle, ausgedehnt, mit weitgesteckten Herrschaftsgrenzen zu stabiliren, so ist die Fortentwickelung des Bundes unnatürlich auf eine überspannte Action der legislativen Maschinerie hingewiesen. Der directe Weg ist so gut, wie verschlossen, beispielsweise im Bereich des bürgerlichen Rechts die Grundlagen einer Bundesgerichtsverfassung in großen Zügen constitutionell durchzuführen, mit gleichmäßiger Gerichtsorganisation, Reichsgerichten, einem eigentlichen Reichskanzler im alten historischen Sinne, und was sonst dazu gehören würde. So werfen wir uns mit aller Macht auf den gefügigsten Stoff des materiellen Rechts, versuchen es hier mit einer straff einheitlichen Codification, unbeküm¬ mert um alle particuläre Rechtsentwickelung legitimer und illegitimer Art, immer nur den politischen Zweck im Auge, hierdurch erst ebenen Boden für weiteres Organisationswerk zu gewinnen. Es geschieht in Hast und Eile; das Bedürfniß, aus dem unfertigen, verworrenen, unhaltbaren Bau dieses soi-Äisg-ut Bundes herauszukommen, ebenso wie das stets wache Mi߬ trauen gegen die Sondergelüste der Bundesgenossen treibt ruhelos vorwärts. Es kommt nicht daraus an, ob solche Legislativ» zunächst den staatsrecht¬ lichen Wirrwarr steigert, ob absolut unlösbare politisch-juristische Räthsel ge¬ schaffen, und die Natur der selbständigen Staatsindividualitäten unerträglich Problematisch wird. Wenn nur die Kugel vorwärts rollt und ein neuer Reifen um das zerbrechliche Gefüge geschlagen ist! Was geschieht, ist hier nur klar, das Warum wird offenbar, wenn die Todten auferstehen — und mit ihnen das deutsche Reich in seiner alten Herrlichkeit. Das Letzte ist nun freilich ein schlechtes Citat aus der deutschen Schick¬ salstragödie. Aber es ist nicht leicht eine bessere Antwort auf eine Reihe von Fragen zu finden, welche den oben erwähnten „Erörterungen" im Vor¬ wort vorausgeschickt sind. Ob der revidirte Entwurf des norddeutschen Strafgesetzbuchs nicht mit etwas geringerem Hochdruck durch Bundesrath und Reichstag durchzupeitschen wäre, ob er ohne Lebensgefahr zum Nutzen und Frommen der Fachkritik nicht auch noch bis ins Jahr 1871 warten könnte, ob er in seiner jetzigen Gestalt nicht ungeeignet ist, moralische Er-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/381
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/381>, abgerufen am 29.06.2024.