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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Spruch auf positiven Zusammenhang der Minister mit der parlamentarischen
Majorität. Wir haben in Deutschland weder starke Parteien, die einer
Parteiregierung Rückhalt bieten könnten, noch feste Majoritäten, noch wirklich
dominirende Parteihäupter. "Das System der Partetregierung hat sich noch
in keiner großen Monarchie des Festlandes bewährt.....In England
allein sind die Bedingungen vorhanden: eine herabgewürdigte Krone, die
sich des eigenen Willens begeben hat; ein großartig ausgebildetes, durch
Rechtsschranken gesichertes Selfgovernment, das der Parteiregierung willkür¬
liche Eingriffe in die Ortsverwaltung, in das Kirchen- und Schulwesen schlecht¬
hin unmöglich macht; eine regierende Classe, welche die Aemter dieser Selbst¬
verwaltung besetzt und den größten Theil der Steuerlast allein trägt; ein
subalternes Beamtenthum, das der Aristokratie im socialen, wie im politischen
Leben unterthänig ist; ein Parlament, das fast alle praktischen politischen
Talente der Nation in sich vereinigt; ein Unterhaus, dessen Mitglieder großen-
theils zum Adel gehören, unter dem überwiegenden Einfluß der Aristokratie
gewählt werden und darum der öffentlichen Meinung zugleich empfänglich
und unabhängig gegenüberstehen; ein Oberhaus, das aus den Spitzen der
im Hause der Gemeinen herrschenden Aristokratie gebildet ist; zwei große
durch Tradition und Familienverwandtschaft fest verbundene Adelsparteien,
welche über alle wesentlichen Verfassungsfragen einig sind; angesessene Partei¬
führer, welche diese Parteien mit dictatorischer Macht leiten; ein Volk end¬
lich, das mit wachsamen Freimuth die Regierung beaufsichtigt, aber zu der
politischen Tüchtigkeit seines Adels ein gutes Zutrauen hegt." Seit mit den
Reformbills das feste Gefüge des englischen Parteiwesens ins Zerbröckeln ge¬
kommen ist, schwinden auch für England stetig jene Vorbedingungen. Und
"wenn der Fortbestand der Parteiregierung in England erschwert ist, seit
das Unterhaus anfängt die Gestalt einer Volksvertretung anzunehmen, wie
dürfen wir darauf ausgehen, ein solches Regierungssystem erst zu gründen,
wir, deren Unterhaus eine Volksvertretung sein und bleiben soll? Auch ist
wohl zu bedenken, daß "das System der Parteiregierung verlangen, bevor
wir die rechtliche Verantwortlichkeit der Minister besitzen und solange die
Bureaukratie noch ihre gegenwärtige Macht behauptet -- die politische Frei¬
heit gefährden heißt."

Ebenso treffend und voll heilsamer Wahrheiten ist Treitschke's Kritik der
parlamentarischen Finanzrechte. Die Idee eines absoluten Steuerverweigerungs¬
rechts der Volksvertretung ist ein historischer Anachronismus, ein Rückfall
aus dem modernen tausendfach verzweigten Staatsorganismus in das staaten¬
lose Ständerecht; sie ist in ihrer praktischen Ausführbarkeit entweder als leere
Drohung eine Unwahrheit oder als ernsthafter Gedanke eine revolutionäre
Auflösung des Staats, genau so revolutionär, wie die Suspendirung der


Grenzboten I. 1870. 42

Spruch auf positiven Zusammenhang der Minister mit der parlamentarischen
Majorität. Wir haben in Deutschland weder starke Parteien, die einer
Parteiregierung Rückhalt bieten könnten, noch feste Majoritäten, noch wirklich
dominirende Parteihäupter. „Das System der Partetregierung hat sich noch
in keiner großen Monarchie des Festlandes bewährt.....In England
allein sind die Bedingungen vorhanden: eine herabgewürdigte Krone, die
sich des eigenen Willens begeben hat; ein großartig ausgebildetes, durch
Rechtsschranken gesichertes Selfgovernment, das der Parteiregierung willkür¬
liche Eingriffe in die Ortsverwaltung, in das Kirchen- und Schulwesen schlecht¬
hin unmöglich macht; eine regierende Classe, welche die Aemter dieser Selbst¬
verwaltung besetzt und den größten Theil der Steuerlast allein trägt; ein
subalternes Beamtenthum, das der Aristokratie im socialen, wie im politischen
Leben unterthänig ist; ein Parlament, das fast alle praktischen politischen
Talente der Nation in sich vereinigt; ein Unterhaus, dessen Mitglieder großen-
theils zum Adel gehören, unter dem überwiegenden Einfluß der Aristokratie
gewählt werden und darum der öffentlichen Meinung zugleich empfänglich
und unabhängig gegenüberstehen; ein Oberhaus, das aus den Spitzen der
im Hause der Gemeinen herrschenden Aristokratie gebildet ist; zwei große
durch Tradition und Familienverwandtschaft fest verbundene Adelsparteien,
welche über alle wesentlichen Verfassungsfragen einig sind; angesessene Partei¬
führer, welche diese Parteien mit dictatorischer Macht leiten; ein Volk end¬
lich, das mit wachsamen Freimuth die Regierung beaufsichtigt, aber zu der
politischen Tüchtigkeit seines Adels ein gutes Zutrauen hegt." Seit mit den
Reformbills das feste Gefüge des englischen Parteiwesens ins Zerbröckeln ge¬
kommen ist, schwinden auch für England stetig jene Vorbedingungen. Und
„wenn der Fortbestand der Parteiregierung in England erschwert ist, seit
das Unterhaus anfängt die Gestalt einer Volksvertretung anzunehmen, wie
dürfen wir darauf ausgehen, ein solches Regierungssystem erst zu gründen,
wir, deren Unterhaus eine Volksvertretung sein und bleiben soll? Auch ist
wohl zu bedenken, daß „das System der Parteiregierung verlangen, bevor
wir die rechtliche Verantwortlichkeit der Minister besitzen und solange die
Bureaukratie noch ihre gegenwärtige Macht behauptet — die politische Frei¬
heit gefährden heißt."

Ebenso treffend und voll heilsamer Wahrheiten ist Treitschke's Kritik der
parlamentarischen Finanzrechte. Die Idee eines absoluten Steuerverweigerungs¬
rechts der Volksvertretung ist ein historischer Anachronismus, ein Rückfall
aus dem modernen tausendfach verzweigten Staatsorganismus in das staaten¬
lose Ständerecht; sie ist in ihrer praktischen Ausführbarkeit entweder als leere
Drohung eine Unwahrheit oder als ernsthafter Gedanke eine revolutionäre
Auflösung des Staats, genau so revolutionär, wie die Suspendirung der


Grenzboten I. 1870. 42
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[0335] Spruch auf positiven Zusammenhang der Minister mit der parlamentarischen Majorität. Wir haben in Deutschland weder starke Parteien, die einer Parteiregierung Rückhalt bieten könnten, noch feste Majoritäten, noch wirklich dominirende Parteihäupter. „Das System der Partetregierung hat sich noch in keiner großen Monarchie des Festlandes bewährt.....In England allein sind die Bedingungen vorhanden: eine herabgewürdigte Krone, die sich des eigenen Willens begeben hat; ein großartig ausgebildetes, durch Rechtsschranken gesichertes Selfgovernment, das der Parteiregierung willkür¬ liche Eingriffe in die Ortsverwaltung, in das Kirchen- und Schulwesen schlecht¬ hin unmöglich macht; eine regierende Classe, welche die Aemter dieser Selbst¬ verwaltung besetzt und den größten Theil der Steuerlast allein trägt; ein subalternes Beamtenthum, das der Aristokratie im socialen, wie im politischen Leben unterthänig ist; ein Parlament, das fast alle praktischen politischen Talente der Nation in sich vereinigt; ein Unterhaus, dessen Mitglieder großen- theils zum Adel gehören, unter dem überwiegenden Einfluß der Aristokratie gewählt werden und darum der öffentlichen Meinung zugleich empfänglich und unabhängig gegenüberstehen; ein Oberhaus, das aus den Spitzen der im Hause der Gemeinen herrschenden Aristokratie gebildet ist; zwei große durch Tradition und Familienverwandtschaft fest verbundene Adelsparteien, welche über alle wesentlichen Verfassungsfragen einig sind; angesessene Partei¬ führer, welche diese Parteien mit dictatorischer Macht leiten; ein Volk end¬ lich, das mit wachsamen Freimuth die Regierung beaufsichtigt, aber zu der politischen Tüchtigkeit seines Adels ein gutes Zutrauen hegt." Seit mit den Reformbills das feste Gefüge des englischen Parteiwesens ins Zerbröckeln ge¬ kommen ist, schwinden auch für England stetig jene Vorbedingungen. Und „wenn der Fortbestand der Parteiregierung in England erschwert ist, seit das Unterhaus anfängt die Gestalt einer Volksvertretung anzunehmen, wie dürfen wir darauf ausgehen, ein solches Regierungssystem erst zu gründen, wir, deren Unterhaus eine Volksvertretung sein und bleiben soll? Auch ist wohl zu bedenken, daß „das System der Parteiregierung verlangen, bevor wir die rechtliche Verantwortlichkeit der Minister besitzen und solange die Bureaukratie noch ihre gegenwärtige Macht behauptet — die politische Frei¬ heit gefährden heißt." Ebenso treffend und voll heilsamer Wahrheiten ist Treitschke's Kritik der parlamentarischen Finanzrechte. Die Idee eines absoluten Steuerverweigerungs¬ rechts der Volksvertretung ist ein historischer Anachronismus, ein Rückfall aus dem modernen tausendfach verzweigten Staatsorganismus in das staaten¬ lose Ständerecht; sie ist in ihrer praktischen Ausführbarkeit entweder als leere Drohung eine Unwahrheit oder als ernsthafter Gedanke eine revolutionäre Auflösung des Staats, genau so revolutionär, wie die Suspendirung der Grenzboten I. 1870. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/335>, abgerufen am 29.06.2024.