Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und ebenso war die Regierung auch formell berechtigt, .sie im Verordnungs¬
wege zu verfügen, aber es fragt sich, ob der gegenwärtige Moment, in dem
die Fabrikanten schon an sich über Verkehrsstockung klagten, der richtige
dafür war. Die ganze Macht der schutzzöllnerischen Opposition beruht da¬
rauf, daß dem Lande der Vertrag mit England, sowie seine Anschauungen
vom aufgeklärten Despotismus octoyirt sind. Ueber Nacht ward in Frankreich
das Prohibitivsystem gestürzt wie neun Jahre zuvor das parlamentarische.
Sicher wird die Geschichte es Napoleon als einen Beweis seiner Scharfsichtig¬
keit anrechnen, daß er die Trugschlüsse der Schutzzöllner durchschaute und
seine Macht gebrauchte, um den richtigen Principien Eingang zu schaffen,
aber ein großes und gebildetes Land läßt sich nicht gern zu seinem Glücke
zwingen und es bleibt bei Vielen, namentlich denen, welche durch den schar¬
fen Uebergang wirklich gelitten haben, eine erklärliche Bitterkeit. Nun kommt
noch hinzu, daß die Sache der Protectionisten hauptsächlich nicht durch Fa¬
brikanten wie Braine, und Pouyer-Quertied, die für ihre eigene Tasche
sprechen, vertreten wird, sondern durch Thiers, dem Niemand vorwerfen
kann, daß er die Particular-Interessen einer Classe vertrete. Er denkt
wirklich nur an Frankreichs Größe, seiner bornirten aber leidenschaftlich
patriotischen Anschauung zufolge kann Frankreich sich selbst genügen und
soll sich deshalb in sich abschließen. Es ist eine kleine vollkommne Welt,
daher soll es sich selbst vor Allem seinen Markt sichern vor Überschwemmung
fremder Waaren. Er behauptet, es komme der französischen Industrie gar
nicht so darauf an, billige Rohmaterialen zu haben, sie gehe nicht wie die
englische aus Massenproduction, sondern ihr Vorzug bestehe in der künstlerischen
Qualität, bei der die Arbeit so überwiege, daß die Bedeutung des Rohstoffs
gering werde. -- Der Hintergedanke bet dieser ganzen Deduction von Thiers
ist die auswärtige Stellung Frankreichs. Weil wie er glaubt, bei Freihandel
und vielfältig entwickelten Beziehungen nach Außen die materiellen Interessen
so verletzlich werden, daß jeder Krieg verheerend wirkt, so will er Frankreich
als Welt für sich erhalten. Diese Auffassung ist nun zwar an sich selbst
falsch, denn das Land ist am schlagfertigsten für den Krieg, welches beim Aus¬
bruch desselben eine plötzliche Steigerung der Besteuerung ertragen kann; und kein
Land kann dies, dessen Industrie durch Schutzzölle in nicht natürliche Bahnen
gedrängt ist. Aber richtig ist es und wahrlich nicht das geringste Verdienst
der freihändlerischen Politik, daß sie die Interessen der Völker ineinander ver-
webt und dadurch den Krieg schwer macht. Forcade durfte deshalb seine treffliche
Rede mit Recht so schließen: "Je weiter Sie in das Studium der Thatsachen
eindringen, desto mehr werden Sie sich von zwei Dingen überzeugen, einmal,
daß in einem Lande wie Frankreich die wirklich nationale Arbeit diejenige


40*

und ebenso war die Regierung auch formell berechtigt, .sie im Verordnungs¬
wege zu verfügen, aber es fragt sich, ob der gegenwärtige Moment, in dem
die Fabrikanten schon an sich über Verkehrsstockung klagten, der richtige
dafür war. Die ganze Macht der schutzzöllnerischen Opposition beruht da¬
rauf, daß dem Lande der Vertrag mit England, sowie seine Anschauungen
vom aufgeklärten Despotismus octoyirt sind. Ueber Nacht ward in Frankreich
das Prohibitivsystem gestürzt wie neun Jahre zuvor das parlamentarische.
Sicher wird die Geschichte es Napoleon als einen Beweis seiner Scharfsichtig¬
keit anrechnen, daß er die Trugschlüsse der Schutzzöllner durchschaute und
seine Macht gebrauchte, um den richtigen Principien Eingang zu schaffen,
aber ein großes und gebildetes Land läßt sich nicht gern zu seinem Glücke
zwingen und es bleibt bei Vielen, namentlich denen, welche durch den schar¬
fen Uebergang wirklich gelitten haben, eine erklärliche Bitterkeit. Nun kommt
noch hinzu, daß die Sache der Protectionisten hauptsächlich nicht durch Fa¬
brikanten wie Braine, und Pouyer-Quertied, die für ihre eigene Tasche
sprechen, vertreten wird, sondern durch Thiers, dem Niemand vorwerfen
kann, daß er die Particular-Interessen einer Classe vertrete. Er denkt
wirklich nur an Frankreichs Größe, seiner bornirten aber leidenschaftlich
patriotischen Anschauung zufolge kann Frankreich sich selbst genügen und
soll sich deshalb in sich abschließen. Es ist eine kleine vollkommne Welt,
daher soll es sich selbst vor Allem seinen Markt sichern vor Überschwemmung
fremder Waaren. Er behauptet, es komme der französischen Industrie gar
nicht so darauf an, billige Rohmaterialen zu haben, sie gehe nicht wie die
englische aus Massenproduction, sondern ihr Vorzug bestehe in der künstlerischen
Qualität, bei der die Arbeit so überwiege, daß die Bedeutung des Rohstoffs
gering werde. — Der Hintergedanke bet dieser ganzen Deduction von Thiers
ist die auswärtige Stellung Frankreichs. Weil wie er glaubt, bei Freihandel
und vielfältig entwickelten Beziehungen nach Außen die materiellen Interessen
so verletzlich werden, daß jeder Krieg verheerend wirkt, so will er Frankreich
als Welt für sich erhalten. Diese Auffassung ist nun zwar an sich selbst
falsch, denn das Land ist am schlagfertigsten für den Krieg, welches beim Aus¬
bruch desselben eine plötzliche Steigerung der Besteuerung ertragen kann; und kein
Land kann dies, dessen Industrie durch Schutzzölle in nicht natürliche Bahnen
gedrängt ist. Aber richtig ist es und wahrlich nicht das geringste Verdienst
der freihändlerischen Politik, daß sie die Interessen der Völker ineinander ver-
webt und dadurch den Krieg schwer macht. Forcade durfte deshalb seine treffliche
Rede mit Recht so schließen: „Je weiter Sie in das Studium der Thatsachen
eindringen, desto mehr werden Sie sich von zwei Dingen überzeugen, einmal,
daß in einem Lande wie Frankreich die wirklich nationale Arbeit diejenige


40*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0321" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123409"/>
          <p xml:id="ID_898" prev="#ID_897" next="#ID_899"> und ebenso war die Regierung auch formell berechtigt, .sie im Verordnungs¬<lb/>
wege zu verfügen, aber es fragt sich, ob der gegenwärtige Moment, in dem<lb/>
die Fabrikanten schon an sich über Verkehrsstockung klagten, der richtige<lb/>
dafür war. Die ganze Macht der schutzzöllnerischen Opposition beruht da¬<lb/>
rauf, daß dem Lande der Vertrag mit England, sowie seine Anschauungen<lb/>
vom aufgeklärten Despotismus octoyirt sind. Ueber Nacht ward in Frankreich<lb/>
das Prohibitivsystem gestürzt wie neun Jahre zuvor das parlamentarische.<lb/>
Sicher wird die Geschichte es Napoleon als einen Beweis seiner Scharfsichtig¬<lb/>
keit anrechnen, daß er die Trugschlüsse der Schutzzöllner durchschaute und<lb/>
seine Macht gebrauchte, um den richtigen Principien Eingang zu schaffen,<lb/>
aber ein großes und gebildetes Land läßt sich nicht gern zu seinem Glücke<lb/>
zwingen und es bleibt bei Vielen, namentlich denen, welche durch den schar¬<lb/>
fen Uebergang wirklich gelitten haben, eine erklärliche Bitterkeit. Nun kommt<lb/>
noch hinzu, daß die Sache der Protectionisten hauptsächlich nicht durch Fa¬<lb/>
brikanten wie Braine, und Pouyer-Quertied, die für ihre eigene Tasche<lb/>
sprechen, vertreten wird, sondern durch Thiers, dem Niemand vorwerfen<lb/>
kann, daß er die Particular-Interessen einer Classe vertrete. Er denkt<lb/>
wirklich nur an Frankreichs Größe, seiner bornirten aber leidenschaftlich<lb/>
patriotischen Anschauung zufolge kann Frankreich sich selbst genügen und<lb/>
soll sich deshalb in sich abschließen. Es ist eine kleine vollkommne Welt,<lb/>
daher soll es sich selbst vor Allem seinen Markt sichern vor Überschwemmung<lb/>
fremder Waaren. Er behauptet, es komme der französischen Industrie gar<lb/>
nicht so darauf an, billige Rohmaterialen zu haben, sie gehe nicht wie die<lb/>
englische aus Massenproduction, sondern ihr Vorzug bestehe in der künstlerischen<lb/>
Qualität, bei der die Arbeit so überwiege, daß die Bedeutung des Rohstoffs<lb/>
gering werde. &#x2014; Der Hintergedanke bet dieser ganzen Deduction von Thiers<lb/>
ist die auswärtige Stellung Frankreichs. Weil wie er glaubt, bei Freihandel<lb/>
und vielfältig entwickelten Beziehungen nach Außen die materiellen Interessen<lb/>
so verletzlich werden, daß jeder Krieg verheerend wirkt, so will er Frankreich<lb/>
als Welt für sich erhalten. Diese Auffassung ist nun zwar an sich selbst<lb/>
falsch, denn das Land ist am schlagfertigsten für den Krieg, welches beim Aus¬<lb/>
bruch desselben eine plötzliche Steigerung der Besteuerung ertragen kann; und kein<lb/>
Land kann dies, dessen Industrie durch Schutzzölle in nicht natürliche Bahnen<lb/>
gedrängt ist. Aber richtig ist es und wahrlich nicht das geringste Verdienst<lb/>
der freihändlerischen Politik, daß sie die Interessen der Völker ineinander ver-<lb/>
webt und dadurch den Krieg schwer macht. Forcade durfte deshalb seine treffliche<lb/>
Rede mit Recht so schließen: &#x201E;Je weiter Sie in das Studium der Thatsachen<lb/>
eindringen, desto mehr werden Sie sich von zwei Dingen überzeugen, einmal,<lb/>
daß in einem Lande wie Frankreich die wirklich nationale Arbeit diejenige</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 40*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0321] und ebenso war die Regierung auch formell berechtigt, .sie im Verordnungs¬ wege zu verfügen, aber es fragt sich, ob der gegenwärtige Moment, in dem die Fabrikanten schon an sich über Verkehrsstockung klagten, der richtige dafür war. Die ganze Macht der schutzzöllnerischen Opposition beruht da¬ rauf, daß dem Lande der Vertrag mit England, sowie seine Anschauungen vom aufgeklärten Despotismus octoyirt sind. Ueber Nacht ward in Frankreich das Prohibitivsystem gestürzt wie neun Jahre zuvor das parlamentarische. Sicher wird die Geschichte es Napoleon als einen Beweis seiner Scharfsichtig¬ keit anrechnen, daß er die Trugschlüsse der Schutzzöllner durchschaute und seine Macht gebrauchte, um den richtigen Principien Eingang zu schaffen, aber ein großes und gebildetes Land läßt sich nicht gern zu seinem Glücke zwingen und es bleibt bei Vielen, namentlich denen, welche durch den schar¬ fen Uebergang wirklich gelitten haben, eine erklärliche Bitterkeit. Nun kommt noch hinzu, daß die Sache der Protectionisten hauptsächlich nicht durch Fa¬ brikanten wie Braine, und Pouyer-Quertied, die für ihre eigene Tasche sprechen, vertreten wird, sondern durch Thiers, dem Niemand vorwerfen kann, daß er die Particular-Interessen einer Classe vertrete. Er denkt wirklich nur an Frankreichs Größe, seiner bornirten aber leidenschaftlich patriotischen Anschauung zufolge kann Frankreich sich selbst genügen und soll sich deshalb in sich abschließen. Es ist eine kleine vollkommne Welt, daher soll es sich selbst vor Allem seinen Markt sichern vor Überschwemmung fremder Waaren. Er behauptet, es komme der französischen Industrie gar nicht so darauf an, billige Rohmaterialen zu haben, sie gehe nicht wie die englische aus Massenproduction, sondern ihr Vorzug bestehe in der künstlerischen Qualität, bei der die Arbeit so überwiege, daß die Bedeutung des Rohstoffs gering werde. — Der Hintergedanke bet dieser ganzen Deduction von Thiers ist die auswärtige Stellung Frankreichs. Weil wie er glaubt, bei Freihandel und vielfältig entwickelten Beziehungen nach Außen die materiellen Interessen so verletzlich werden, daß jeder Krieg verheerend wirkt, so will er Frankreich als Welt für sich erhalten. Diese Auffassung ist nun zwar an sich selbst falsch, denn das Land ist am schlagfertigsten für den Krieg, welches beim Aus¬ bruch desselben eine plötzliche Steigerung der Besteuerung ertragen kann; und kein Land kann dies, dessen Industrie durch Schutzzölle in nicht natürliche Bahnen gedrängt ist. Aber richtig ist es und wahrlich nicht das geringste Verdienst der freihändlerischen Politik, daß sie die Interessen der Völker ineinander ver- webt und dadurch den Krieg schwer macht. Forcade durfte deshalb seine treffliche Rede mit Recht so schließen: „Je weiter Sie in das Studium der Thatsachen eindringen, desto mehr werden Sie sich von zwei Dingen überzeugen, einmal, daß in einem Lande wie Frankreich die wirklich nationale Arbeit diejenige 40*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/321
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/321>, abgerufen am 29.06.2024.