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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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les uns ach untres. Hat aber nicht gerade Commynes selbst durch sein Leben
und durch seine Memoiren auf das Nachdrücklichste dafür gearbeitet, daß Treu
und Glauben in der Welt abnahmen?

Der Macchiavellismus, der in seinen Schriften eine so bedeutende Rolle
spielt, nöthigt noch zu einer ganz besonders gravirenden Bemerkung. Denn
wir Alle wissen, daß jener große florentinische Staatsmann nur durch die
allerschwerste politische Noth dazu gebracht wurde, in seinem Buche über
den Fürsten der rücksichtslosesten Tyrannei das Wort zu reden; wir wissen,
daß er dies nur that, weil er den Zustand seines italienischen Vaterlandes
für so verzweifelt hielt, daß dasselbe nur noch durch die eiserne Faust eines
harten Tyrannen gerettet werden könne. Hatte Commynes eine solche Ent¬
schuldigung? War Frankreich, der Staat Ludwigs XI,, in so verzweifelter
Lage? Ganz gewiß nicht, so schwer auch der Kampf mit dem Herzog von
Burgund und den übrigen großen Vasallen wurde. Ja wenn wir zum
Schlüsse noch einen prüfenden Blick aus die damalige Lage Frankreichs wer¬
fen, so tritt uns die Jmmoralität, an der das politische System Commynes'
leidet, in ihrer ganzen Nacktheit entgegen.

Denn König Ludwig XI. hatte, als er die Regierung begann, offenbar
zwei Wege vor sich, um dasjenige zu erreichen, wohin die stärksten Jnstincte
jener Zeit drängten, d. h. um die Staatseinheit der französischen Landschaften
über der bisherigen Zersplitterung zu begründen. Er konnte entweder den
absolutistischen Weg gehen, das gemeinnützige Werk nach seiner Laune und
Willkür vollenden, oder er konnte sich auf die Stände des Reichs stützen,
mit deren Beistimmung, mit nachdrücklicher Hilfe von Seiten der gesammten
Volkskraft die Macht der Krone über den Trotz der Vasallen erhöhen.
Der letztere Weg war damals noch durchaus möglich. Denn während der
ganzen Epoche der englischen Kriege hatte das ständische Wesen Frankreichs
eine ungemein hohe Bedeutung besessen und außerordentliche Kräfte entfaltet.
Freilich hatte gerade der für constitutionelle Entwickelung wichtigste Reichs¬
stand, der Stand der Bürger, seine Aufgabe schlecht begriffen, hatte sich durch
Parteiische Umtriebe, sogar durch Theilnahme für den Neichsfeind, die Eng¬
länder, mehrfach empfindlich geschadet. Durfte aber ein weiser und sür die
Wohlfahrt seiner Unterthanen wahrhaft besorgter Herrscher auch jetzt noch,
wo die englische Gefahr beseitigt war und das französische Königthum in
den Massen begeisterte Anhänglichkeit fand, sich hindern lassen, die Stände
des Reiches an der Leitung des Staates zu betheiligen? Wie nahe dies da¬
mals noch lag, zeigt vornehmlich Commynes' Lehre und Leben*). Denn



") Ueber das Verhältniß der Stände zur Regierung i" Frankreich während des fünfzehnten
Jahrhunderts stehe vornehmlich Ranke französ, Gesch. I-
Greuzboten 1.1870. 38

les uns ach untres. Hat aber nicht gerade Commynes selbst durch sein Leben
und durch seine Memoiren auf das Nachdrücklichste dafür gearbeitet, daß Treu
und Glauben in der Welt abnahmen?

Der Macchiavellismus, der in seinen Schriften eine so bedeutende Rolle
spielt, nöthigt noch zu einer ganz besonders gravirenden Bemerkung. Denn
wir Alle wissen, daß jener große florentinische Staatsmann nur durch die
allerschwerste politische Noth dazu gebracht wurde, in seinem Buche über
den Fürsten der rücksichtslosesten Tyrannei das Wort zu reden; wir wissen,
daß er dies nur that, weil er den Zustand seines italienischen Vaterlandes
für so verzweifelt hielt, daß dasselbe nur noch durch die eiserne Faust eines
harten Tyrannen gerettet werden könne. Hatte Commynes eine solche Ent¬
schuldigung? War Frankreich, der Staat Ludwigs XI,, in so verzweifelter
Lage? Ganz gewiß nicht, so schwer auch der Kampf mit dem Herzog von
Burgund und den übrigen großen Vasallen wurde. Ja wenn wir zum
Schlüsse noch einen prüfenden Blick aus die damalige Lage Frankreichs wer¬
fen, so tritt uns die Jmmoralität, an der das politische System Commynes'
leidet, in ihrer ganzen Nacktheit entgegen.

Denn König Ludwig XI. hatte, als er die Regierung begann, offenbar
zwei Wege vor sich, um dasjenige zu erreichen, wohin die stärksten Jnstincte
jener Zeit drängten, d. h. um die Staatseinheit der französischen Landschaften
über der bisherigen Zersplitterung zu begründen. Er konnte entweder den
absolutistischen Weg gehen, das gemeinnützige Werk nach seiner Laune und
Willkür vollenden, oder er konnte sich auf die Stände des Reichs stützen,
mit deren Beistimmung, mit nachdrücklicher Hilfe von Seiten der gesammten
Volkskraft die Macht der Krone über den Trotz der Vasallen erhöhen.
Der letztere Weg war damals noch durchaus möglich. Denn während der
ganzen Epoche der englischen Kriege hatte das ständische Wesen Frankreichs
eine ungemein hohe Bedeutung besessen und außerordentliche Kräfte entfaltet.
Freilich hatte gerade der für constitutionelle Entwickelung wichtigste Reichs¬
stand, der Stand der Bürger, seine Aufgabe schlecht begriffen, hatte sich durch
Parteiische Umtriebe, sogar durch Theilnahme für den Neichsfeind, die Eng¬
länder, mehrfach empfindlich geschadet. Durfte aber ein weiser und sür die
Wohlfahrt seiner Unterthanen wahrhaft besorgter Herrscher auch jetzt noch,
wo die englische Gefahr beseitigt war und das französische Königthum in
den Massen begeisterte Anhänglichkeit fand, sich hindern lassen, die Stände
des Reiches an der Leitung des Staates zu betheiligen? Wie nahe dies da¬
mals noch lag, zeigt vornehmlich Commynes' Lehre und Leben*). Denn



") Ueber das Verhältniß der Stände zur Regierung i» Frankreich während des fünfzehnten
Jahrhunderts stehe vornehmlich Ranke französ, Gesch. I-
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[0303] les uns ach untres. Hat aber nicht gerade Commynes selbst durch sein Leben und durch seine Memoiren auf das Nachdrücklichste dafür gearbeitet, daß Treu und Glauben in der Welt abnahmen? Der Macchiavellismus, der in seinen Schriften eine so bedeutende Rolle spielt, nöthigt noch zu einer ganz besonders gravirenden Bemerkung. Denn wir Alle wissen, daß jener große florentinische Staatsmann nur durch die allerschwerste politische Noth dazu gebracht wurde, in seinem Buche über den Fürsten der rücksichtslosesten Tyrannei das Wort zu reden; wir wissen, daß er dies nur that, weil er den Zustand seines italienischen Vaterlandes für so verzweifelt hielt, daß dasselbe nur noch durch die eiserne Faust eines harten Tyrannen gerettet werden könne. Hatte Commynes eine solche Ent¬ schuldigung? War Frankreich, der Staat Ludwigs XI,, in so verzweifelter Lage? Ganz gewiß nicht, so schwer auch der Kampf mit dem Herzog von Burgund und den übrigen großen Vasallen wurde. Ja wenn wir zum Schlüsse noch einen prüfenden Blick aus die damalige Lage Frankreichs wer¬ fen, so tritt uns die Jmmoralität, an der das politische System Commynes' leidet, in ihrer ganzen Nacktheit entgegen. Denn König Ludwig XI. hatte, als er die Regierung begann, offenbar zwei Wege vor sich, um dasjenige zu erreichen, wohin die stärksten Jnstincte jener Zeit drängten, d. h. um die Staatseinheit der französischen Landschaften über der bisherigen Zersplitterung zu begründen. Er konnte entweder den absolutistischen Weg gehen, das gemeinnützige Werk nach seiner Laune und Willkür vollenden, oder er konnte sich auf die Stände des Reichs stützen, mit deren Beistimmung, mit nachdrücklicher Hilfe von Seiten der gesammten Volkskraft die Macht der Krone über den Trotz der Vasallen erhöhen. Der letztere Weg war damals noch durchaus möglich. Denn während der ganzen Epoche der englischen Kriege hatte das ständische Wesen Frankreichs eine ungemein hohe Bedeutung besessen und außerordentliche Kräfte entfaltet. Freilich hatte gerade der für constitutionelle Entwickelung wichtigste Reichs¬ stand, der Stand der Bürger, seine Aufgabe schlecht begriffen, hatte sich durch Parteiische Umtriebe, sogar durch Theilnahme für den Neichsfeind, die Eng¬ länder, mehrfach empfindlich geschadet. Durfte aber ein weiser und sür die Wohlfahrt seiner Unterthanen wahrhaft besorgter Herrscher auch jetzt noch, wo die englische Gefahr beseitigt war und das französische Königthum in den Massen begeisterte Anhänglichkeit fand, sich hindern lassen, die Stände des Reiches an der Leitung des Staates zu betheiligen? Wie nahe dies da¬ mals noch lag, zeigt vornehmlich Commynes' Lehre und Leben*). Denn ") Ueber das Verhältniß der Stände zur Regierung i» Frankreich während des fünfzehnten Jahrhunderts stehe vornehmlich Ranke französ, Gesch. I- Greuzboten 1.1870. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/303>, abgerufen am 28.09.2024.