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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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lichen Organen die vorher stereotypen Klagen über den sinkenden Realcredit
der Grundbesitzer abgelöst hat. Es ist die Frage nach einer wirksamen land-
wirthschaftlichen Interessenvertretung. In der öffentlichen Verhandlung der
einen wie der anderen Frage ist merkwürdig viel Einbildung ans Licht ge-
treten: Einbildung über den Sitz des Uebels in der Creditfrage, das in
einem großen Umfange ganz einfach darin bestand, daß Rittergutsbesitzer das
ererbte väterliche Landgut ohne das nöthige Anlage- und Betriebscapital
fortbewirthschaften wollten, -- Einbildung über den Werth solcher Körper¬
schaften wie der Handelskammern, denen das Gedeihen des Handels - und
Gewerbestandes im Gegensatz zur Landwirthschaft zu einem bedeutenden
Theile zugeschrieben ward. Aber auf dem Grunde der Bewegung ließen sich
doch auch wohlbegründete Beschwerden und Bestrebungen nicht verkennen.
Das Hypothekenwesen bedürfte insbesondere in Preußen der durchgreifenden
Reform, welche ihm nun zu Theil wird. Eine landwirtschaftliche Interessen¬
vertretung, wenn sie im rechten Geiste geschaffen wird, verspricht allerdings
den Stand, dem sie dienen soll, vorwärtszubringen.

Zu diesem Ende muß jedoch mit der Vorstellung, als gälte es, den Han¬
delskammern etwas Aehnliches an die Seite zu setzen, völlig gebrochen wer¬
den. Gerade zur rechten Zeit sind im preußischen Abgeordnetenhause beider
Berathung des neuen Handelskammergesetzes Zweifel laut geworden, ob die
Handelskammern ihrerseits überhaupt noch aufrecht zu erhalten seien? Dem
allerdings ziemlich radikalen Abgeordneten Richter, der diese Saite im Par¬
lamente anschlug, hat in der Presse Dr. Alexander Meyer fecundirt, Secre-
tär der Breslauer Handelskammer und Mitglied des Handelstagsausschusses,
ein besonders kompetenter Richter. Beide kehren sich gegen die Zwitter¬
natur der Handelskammern als staatlich angeordnete Vereine. spätestens
sobald das von Schulze-Delitzsch betriebene Gesetz über die Erwerbung der
Rechtsfähigkeit durch gewöhnliche Vereine erlassen ist, halten sie die ganze
gesetzliche Einsetzung von Handelskammern für veraltet. Die Anordnung
derselben von Staatswegen gibt ihnen ja nicht allein Befugnisse (sehr be¬
schränkte und wenig werthvolle Befugnisse obendrein), sondern erlegt ihnen
auch allerhand empfindliche Beschränkungen auf, z. B. den Verzicht auf Be¬
rufung ihrer Wähler, der Kaufleute und Gewerbetreibenden eines Bezirks,
zu öffentlichen Versammlungen und Beschlüssen. Sie bringt die Handels¬
kammern überhaupt in eine Abhängigkeit von den Ministern, die nicht günstig
zurückwirken kann weder auf ihr Selbstgefühl noch auf des Ministers Re¬
spect vor ihren Willenskundgebungen. Daher kann es sein, daß die Handels¬
kammern -- eine Frankreich abgesehene büreaukratische Schöpfung, dergleichen
England und Amerika dem Wesen nach nicht kennen -- bald anfangen wer¬
den zu verschwinden; gewiß aber dürfen sie nicht mehr als Muster für die


lichen Organen die vorher stereotypen Klagen über den sinkenden Realcredit
der Grundbesitzer abgelöst hat. Es ist die Frage nach einer wirksamen land-
wirthschaftlichen Interessenvertretung. In der öffentlichen Verhandlung der
einen wie der anderen Frage ist merkwürdig viel Einbildung ans Licht ge-
treten: Einbildung über den Sitz des Uebels in der Creditfrage, das in
einem großen Umfange ganz einfach darin bestand, daß Rittergutsbesitzer das
ererbte väterliche Landgut ohne das nöthige Anlage- und Betriebscapital
fortbewirthschaften wollten, — Einbildung über den Werth solcher Körper¬
schaften wie der Handelskammern, denen das Gedeihen des Handels - und
Gewerbestandes im Gegensatz zur Landwirthschaft zu einem bedeutenden
Theile zugeschrieben ward. Aber auf dem Grunde der Bewegung ließen sich
doch auch wohlbegründete Beschwerden und Bestrebungen nicht verkennen.
Das Hypothekenwesen bedürfte insbesondere in Preußen der durchgreifenden
Reform, welche ihm nun zu Theil wird. Eine landwirtschaftliche Interessen¬
vertretung, wenn sie im rechten Geiste geschaffen wird, verspricht allerdings
den Stand, dem sie dienen soll, vorwärtszubringen.

Zu diesem Ende muß jedoch mit der Vorstellung, als gälte es, den Han¬
delskammern etwas Aehnliches an die Seite zu setzen, völlig gebrochen wer¬
den. Gerade zur rechten Zeit sind im preußischen Abgeordnetenhause beider
Berathung des neuen Handelskammergesetzes Zweifel laut geworden, ob die
Handelskammern ihrerseits überhaupt noch aufrecht zu erhalten seien? Dem
allerdings ziemlich radikalen Abgeordneten Richter, der diese Saite im Par¬
lamente anschlug, hat in der Presse Dr. Alexander Meyer fecundirt, Secre-
tär der Breslauer Handelskammer und Mitglied des Handelstagsausschusses,
ein besonders kompetenter Richter. Beide kehren sich gegen die Zwitter¬
natur der Handelskammern als staatlich angeordnete Vereine. spätestens
sobald das von Schulze-Delitzsch betriebene Gesetz über die Erwerbung der
Rechtsfähigkeit durch gewöhnliche Vereine erlassen ist, halten sie die ganze
gesetzliche Einsetzung von Handelskammern für veraltet. Die Anordnung
derselben von Staatswegen gibt ihnen ja nicht allein Befugnisse (sehr be¬
schränkte und wenig werthvolle Befugnisse obendrein), sondern erlegt ihnen
auch allerhand empfindliche Beschränkungen auf, z. B. den Verzicht auf Be¬
rufung ihrer Wähler, der Kaufleute und Gewerbetreibenden eines Bezirks,
zu öffentlichen Versammlungen und Beschlüssen. Sie bringt die Handels¬
kammern überhaupt in eine Abhängigkeit von den Ministern, die nicht günstig
zurückwirken kann weder auf ihr Selbstgefühl noch auf des Ministers Re¬
spect vor ihren Willenskundgebungen. Daher kann es sein, daß die Handels¬
kammern — eine Frankreich abgesehene büreaukratische Schöpfung, dergleichen
England und Amerika dem Wesen nach nicht kennen — bald anfangen wer¬
den zu verschwinden; gewiß aber dürfen sie nicht mehr als Muster für die


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[0278] lichen Organen die vorher stereotypen Klagen über den sinkenden Realcredit der Grundbesitzer abgelöst hat. Es ist die Frage nach einer wirksamen land- wirthschaftlichen Interessenvertretung. In der öffentlichen Verhandlung der einen wie der anderen Frage ist merkwürdig viel Einbildung ans Licht ge- treten: Einbildung über den Sitz des Uebels in der Creditfrage, das in einem großen Umfange ganz einfach darin bestand, daß Rittergutsbesitzer das ererbte väterliche Landgut ohne das nöthige Anlage- und Betriebscapital fortbewirthschaften wollten, — Einbildung über den Werth solcher Körper¬ schaften wie der Handelskammern, denen das Gedeihen des Handels - und Gewerbestandes im Gegensatz zur Landwirthschaft zu einem bedeutenden Theile zugeschrieben ward. Aber auf dem Grunde der Bewegung ließen sich doch auch wohlbegründete Beschwerden und Bestrebungen nicht verkennen. Das Hypothekenwesen bedürfte insbesondere in Preußen der durchgreifenden Reform, welche ihm nun zu Theil wird. Eine landwirtschaftliche Interessen¬ vertretung, wenn sie im rechten Geiste geschaffen wird, verspricht allerdings den Stand, dem sie dienen soll, vorwärtszubringen. Zu diesem Ende muß jedoch mit der Vorstellung, als gälte es, den Han¬ delskammern etwas Aehnliches an die Seite zu setzen, völlig gebrochen wer¬ den. Gerade zur rechten Zeit sind im preußischen Abgeordnetenhause beider Berathung des neuen Handelskammergesetzes Zweifel laut geworden, ob die Handelskammern ihrerseits überhaupt noch aufrecht zu erhalten seien? Dem allerdings ziemlich radikalen Abgeordneten Richter, der diese Saite im Par¬ lamente anschlug, hat in der Presse Dr. Alexander Meyer fecundirt, Secre- tär der Breslauer Handelskammer und Mitglied des Handelstagsausschusses, ein besonders kompetenter Richter. Beide kehren sich gegen die Zwitter¬ natur der Handelskammern als staatlich angeordnete Vereine. spätestens sobald das von Schulze-Delitzsch betriebene Gesetz über die Erwerbung der Rechtsfähigkeit durch gewöhnliche Vereine erlassen ist, halten sie die ganze gesetzliche Einsetzung von Handelskammern für veraltet. Die Anordnung derselben von Staatswegen gibt ihnen ja nicht allein Befugnisse (sehr be¬ schränkte und wenig werthvolle Befugnisse obendrein), sondern erlegt ihnen auch allerhand empfindliche Beschränkungen auf, z. B. den Verzicht auf Be¬ rufung ihrer Wähler, der Kaufleute und Gewerbetreibenden eines Bezirks, zu öffentlichen Versammlungen und Beschlüssen. Sie bringt die Handels¬ kammern überhaupt in eine Abhängigkeit von den Ministern, die nicht günstig zurückwirken kann weder auf ihr Selbstgefühl noch auf des Ministers Re¬ spect vor ihren Willenskundgebungen. Daher kann es sein, daß die Handels¬ kammern — eine Frankreich abgesehene büreaukratische Schöpfung, dergleichen England und Amerika dem Wesen nach nicht kennen — bald anfangen wer¬ den zu verschwinden; gewiß aber dürfen sie nicht mehr als Muster für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/278>, abgerufen am 28.09.2024.