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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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die kriegerische Begeisterung entflammt, so wie beim Anhören eines Straußi¬
schen Walzers die Tanzlust sich in den Füßen regt, so wird unfehlbar auch
die schmachtende Liebesarie eines Donizetti oder Bellini ohne Worte ver¬
standen werden. Die Melodie schleicht sich ins Herz, wenn sie aus dem
Herzen kommt, aber was schlimmer ist, auch die Sinnlichkeit weckt sie, wenn sie
nur von der Sinnlichkeit eingegeben wurde. Wie oft aber hört man von
unseren jungen Backfischen, ja von kleineren Kindern solche leichte Salon-
Musik, welche die Lehrer vorzugsweise für die Ausbildung des Vortrags
ihnen aussuchen; sogenannte Potpourris, in denen Bellini, Donizetti, Meyer¬
beer und sogar Offenback) ihre musikalische Nahrung ausmachen. Das ist
gerade, als gäbe man ihnen die Lafontaine'schen Schriften, die neue Heloise,
einen englischen Sensationsroman und Clauren durch einander zu lesen. Die
Wirkung ist, wenn auch dem jungen Geiste vielleicht verborgen, nur um so
gefährlicher, weil sie auf Umwegen durch Nerven und Blut dem Gehirne
zugeführt wird und sich Bahn bricht bis ins innerste Mark. Man denke
z. B. an das Duett im 4. Act der Hugenotten; bei der realistischen Kraft
dieser Schilderung, welche der modernen Schule, und ganz insbesondere
Meyerbeer's Muse aufbewahrt blieb, muß jeder, auch der die Situation nicht
kennt, Valentinen's Betäubung, den süßen Taumel, der sie der Wirklichkeit
entrückt, mitempfinden; und dann das furchtbare Erwachen und Erkennen
des Gräßlichen, das vor ihrem Fenster sich vollzieht! Nun, das Alles hörte
ich in einem vierhändigen Arrangement mit anderen Motiven aus derselben
und anderen Oprrn von zwei zehn- und zwölfjährigen Mädchen zu großer
Satisfaction ihrer Eltern vortragen. Glaubt man, weil dem Reinen Alles
rein ist, die Kinder haben deshalb nicht mitempfunden, daß da ein großes
Bild menschlicher Leidenschaft sich vor ihnen entrollt, wenn auch noch räthsel¬
haft und wie ein undeutlicher Traum, doch aufregend und fesselnd? ihre Seele
hat dabei gebebt, und sie werden an den haftenden Melodien weiter träu¬
men. Nun wird man fragen: "Was aber sollen denn die Kinder spielen?
nur Etüden und ernste, ihnen noch unverständliche Musik, wie Beethoven's
so vielfach von der Jugend mißhandelte Sonaten, deren tiefe Innerlichkeit
auch noch nicht von einem kindlichen Herzen verstanden werden kann und soll?
oder that es Noth ihnen eine eigene Musik zu verschaffen? Gott bewahre uns
dafür! was möchten das für Wassersuppen werden, wenn wir noch Hann-
chen und die Küchlein und dergleichen mehr, musikalisch zu genießen be¬
kämen !"

Nein, die musikalische Literatur, die auch der Jugend heilsam und ge-
nußreich sein kann, ist ganz vorhanden, wenn man nur zuzugreifen versteht.
Der ewige Jüngling, den man so fälschlich den Vater Haydn nennt, ist ein
unausschövflicher Born der edelsten reinsten Empfindungen, ganz gemacht,


die kriegerische Begeisterung entflammt, so wie beim Anhören eines Straußi¬
schen Walzers die Tanzlust sich in den Füßen regt, so wird unfehlbar auch
die schmachtende Liebesarie eines Donizetti oder Bellini ohne Worte ver¬
standen werden. Die Melodie schleicht sich ins Herz, wenn sie aus dem
Herzen kommt, aber was schlimmer ist, auch die Sinnlichkeit weckt sie, wenn sie
nur von der Sinnlichkeit eingegeben wurde. Wie oft aber hört man von
unseren jungen Backfischen, ja von kleineren Kindern solche leichte Salon-
Musik, welche die Lehrer vorzugsweise für die Ausbildung des Vortrags
ihnen aussuchen; sogenannte Potpourris, in denen Bellini, Donizetti, Meyer¬
beer und sogar Offenback) ihre musikalische Nahrung ausmachen. Das ist
gerade, als gäbe man ihnen die Lafontaine'schen Schriften, die neue Heloise,
einen englischen Sensationsroman und Clauren durch einander zu lesen. Die
Wirkung ist, wenn auch dem jungen Geiste vielleicht verborgen, nur um so
gefährlicher, weil sie auf Umwegen durch Nerven und Blut dem Gehirne
zugeführt wird und sich Bahn bricht bis ins innerste Mark. Man denke
z. B. an das Duett im 4. Act der Hugenotten; bei der realistischen Kraft
dieser Schilderung, welche der modernen Schule, und ganz insbesondere
Meyerbeer's Muse aufbewahrt blieb, muß jeder, auch der die Situation nicht
kennt, Valentinen's Betäubung, den süßen Taumel, der sie der Wirklichkeit
entrückt, mitempfinden; und dann das furchtbare Erwachen und Erkennen
des Gräßlichen, das vor ihrem Fenster sich vollzieht! Nun, das Alles hörte
ich in einem vierhändigen Arrangement mit anderen Motiven aus derselben
und anderen Oprrn von zwei zehn- und zwölfjährigen Mädchen zu großer
Satisfaction ihrer Eltern vortragen. Glaubt man, weil dem Reinen Alles
rein ist, die Kinder haben deshalb nicht mitempfunden, daß da ein großes
Bild menschlicher Leidenschaft sich vor ihnen entrollt, wenn auch noch räthsel¬
haft und wie ein undeutlicher Traum, doch aufregend und fesselnd? ihre Seele
hat dabei gebebt, und sie werden an den haftenden Melodien weiter träu¬
men. Nun wird man fragen: „Was aber sollen denn die Kinder spielen?
nur Etüden und ernste, ihnen noch unverständliche Musik, wie Beethoven's
so vielfach von der Jugend mißhandelte Sonaten, deren tiefe Innerlichkeit
auch noch nicht von einem kindlichen Herzen verstanden werden kann und soll?
oder that es Noth ihnen eine eigene Musik zu verschaffen? Gott bewahre uns
dafür! was möchten das für Wassersuppen werden, wenn wir noch Hann-
chen und die Küchlein und dergleichen mehr, musikalisch zu genießen be¬
kämen !"

Nein, die musikalische Literatur, die auch der Jugend heilsam und ge-
nußreich sein kann, ist ganz vorhanden, wenn man nur zuzugreifen versteht.
Der ewige Jüngling, den man so fälschlich den Vater Haydn nennt, ist ein
unausschövflicher Born der edelsten reinsten Empfindungen, ganz gemacht,


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[0245] die kriegerische Begeisterung entflammt, so wie beim Anhören eines Straußi¬ schen Walzers die Tanzlust sich in den Füßen regt, so wird unfehlbar auch die schmachtende Liebesarie eines Donizetti oder Bellini ohne Worte ver¬ standen werden. Die Melodie schleicht sich ins Herz, wenn sie aus dem Herzen kommt, aber was schlimmer ist, auch die Sinnlichkeit weckt sie, wenn sie nur von der Sinnlichkeit eingegeben wurde. Wie oft aber hört man von unseren jungen Backfischen, ja von kleineren Kindern solche leichte Salon- Musik, welche die Lehrer vorzugsweise für die Ausbildung des Vortrags ihnen aussuchen; sogenannte Potpourris, in denen Bellini, Donizetti, Meyer¬ beer und sogar Offenback) ihre musikalische Nahrung ausmachen. Das ist gerade, als gäbe man ihnen die Lafontaine'schen Schriften, die neue Heloise, einen englischen Sensationsroman und Clauren durch einander zu lesen. Die Wirkung ist, wenn auch dem jungen Geiste vielleicht verborgen, nur um so gefährlicher, weil sie auf Umwegen durch Nerven und Blut dem Gehirne zugeführt wird und sich Bahn bricht bis ins innerste Mark. Man denke z. B. an das Duett im 4. Act der Hugenotten; bei der realistischen Kraft dieser Schilderung, welche der modernen Schule, und ganz insbesondere Meyerbeer's Muse aufbewahrt blieb, muß jeder, auch der die Situation nicht kennt, Valentinen's Betäubung, den süßen Taumel, der sie der Wirklichkeit entrückt, mitempfinden; und dann das furchtbare Erwachen und Erkennen des Gräßlichen, das vor ihrem Fenster sich vollzieht! Nun, das Alles hörte ich in einem vierhändigen Arrangement mit anderen Motiven aus derselben und anderen Oprrn von zwei zehn- und zwölfjährigen Mädchen zu großer Satisfaction ihrer Eltern vortragen. Glaubt man, weil dem Reinen Alles rein ist, die Kinder haben deshalb nicht mitempfunden, daß da ein großes Bild menschlicher Leidenschaft sich vor ihnen entrollt, wenn auch noch räthsel¬ haft und wie ein undeutlicher Traum, doch aufregend und fesselnd? ihre Seele hat dabei gebebt, und sie werden an den haftenden Melodien weiter träu¬ men. Nun wird man fragen: „Was aber sollen denn die Kinder spielen? nur Etüden und ernste, ihnen noch unverständliche Musik, wie Beethoven's so vielfach von der Jugend mißhandelte Sonaten, deren tiefe Innerlichkeit auch noch nicht von einem kindlichen Herzen verstanden werden kann und soll? oder that es Noth ihnen eine eigene Musik zu verschaffen? Gott bewahre uns dafür! was möchten das für Wassersuppen werden, wenn wir noch Hann- chen und die Küchlein und dergleichen mehr, musikalisch zu genießen be¬ kämen !" Nein, die musikalische Literatur, die auch der Jugend heilsam und ge- nußreich sein kann, ist ganz vorhanden, wenn man nur zuzugreifen versteht. Der ewige Jüngling, den man so fälschlich den Vater Haydn nennt, ist ein unausschövflicher Born der edelsten reinsten Empfindungen, ganz gemacht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/245>, abgerufen am 26.06.2024.