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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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5 tout prix entledigen wollen, die Minister hätten sich dem Kaiser fügen müssen
u. s. w., kurz der Gefangene könnte wohl gefährlicher werden als der Deputirte.
Schwerer fällt ein zweiter Umstand ins Gewicht. Ollivier hatte einen Gesetz¬
entwurf angekündigt, welcher die Preßvergehen den Geschwornengerichten über¬
wies: trotzdem brachte er vor Thorschluß den Antrag ein, die Kammer möge die
Genehmigung zur Verfolgung Rocheforts ertheilen und machte eine Cabinets-
frage daraus. Viele Mitglieder sahen die Gefahr und das Unpolitische des
Antrages; Ernest Picard sprach vom Standpunkte der Regierung vortrefflich
dagegen, Estenerlin, kein Freund Ollivier's, schlug, gewiß unparteiisch, eine
motivirte Tagesordnung vor, welche dem Ministerium einen ehrenvollen
Rückzug sicherte, indem die Kammer ihr volles Vertrauen zu seiner Festig¬
keit ausgesprochen hätte. Thiers rieth ab, die Sache auf die Spitze zu trei¬
ben und Rochefort zum Märtyrer zu machen: umsonst, Ollivier beharrte auf
seinem Willen. Daß er denselben durchsetzte, ist nicht zu verwundern, der
Rücktritt des Ministeriums in diesem Augenblick wäre die Revolution, der
Kampf zwischen Republik und Kaiserreich und man wird der Kammer durch
die Ministersrage jetzt fast Alles octroyiren können. Aber damit ist die Sache nicht
politisch gerechtfertigt, um so weniger, als der Schlußact dieses Jntermezzos,
die Verurtheilung Pierre Bonaparte's, noch bevorsteht. Was wird der Ein¬
druck sein, wenn derselbe in geheimem Verfahren durch den Ausnahmegerichts¬
hof, welcher für Mitglieder der kaiserlichen Familie bestimmt ist, zu einer
vielleicht zweijährigen Festungsstrafe verurtheilt wird, weil ihn Victor Noir
angegriffen?

Wir halten demnach, wie gesagt, den Sieg der Regierung für einen
solchen, den sie vielleicht bald bereuen wird; auch Guizot war formell im
Rechte, als er die zahlreichen Preßverurtheilungen durchsetzte und zwar durch
Geschworene. Aber er erklärt offen in seinen Denkwürdigkeiten, diese Verfol¬
gung der Preßlicenz für einen politischen Fehler. Die einzige gute Seite der
Verurtheilung Rochesorts ist, daß er feiner bürgerlichen Ehrenrechte nicht be¬
raubt ist, also nach wie vor Abgeordneter bleibt, und die Aufregung, welche
eine Neuwahl in Paris jetzt hervorrufen würde, vermieden wird. Aber
hierin sowie in der ganzen verhältnißmäßigen Milde des Spruches liegt doch
eine Inkonsequenz; entweder lag in dem Artikel die Aufreizung zum Hoch¬
verrat!) und dann mußte eine scharfe Strafe eintreten, oder es lag kein der¬
artiges schweres Vergehen vor und dann mußte die Regierung den Fall
nicht zur Cabinetsfrage machen.




5 tout prix entledigen wollen, die Minister hätten sich dem Kaiser fügen müssen
u. s. w., kurz der Gefangene könnte wohl gefährlicher werden als der Deputirte.
Schwerer fällt ein zweiter Umstand ins Gewicht. Ollivier hatte einen Gesetz¬
entwurf angekündigt, welcher die Preßvergehen den Geschwornengerichten über¬
wies: trotzdem brachte er vor Thorschluß den Antrag ein, die Kammer möge die
Genehmigung zur Verfolgung Rocheforts ertheilen und machte eine Cabinets-
frage daraus. Viele Mitglieder sahen die Gefahr und das Unpolitische des
Antrages; Ernest Picard sprach vom Standpunkte der Regierung vortrefflich
dagegen, Estenerlin, kein Freund Ollivier's, schlug, gewiß unparteiisch, eine
motivirte Tagesordnung vor, welche dem Ministerium einen ehrenvollen
Rückzug sicherte, indem die Kammer ihr volles Vertrauen zu seiner Festig¬
keit ausgesprochen hätte. Thiers rieth ab, die Sache auf die Spitze zu trei¬
ben und Rochefort zum Märtyrer zu machen: umsonst, Ollivier beharrte auf
seinem Willen. Daß er denselben durchsetzte, ist nicht zu verwundern, der
Rücktritt des Ministeriums in diesem Augenblick wäre die Revolution, der
Kampf zwischen Republik und Kaiserreich und man wird der Kammer durch
die Ministersrage jetzt fast Alles octroyiren können. Aber damit ist die Sache nicht
politisch gerechtfertigt, um so weniger, als der Schlußact dieses Jntermezzos,
die Verurtheilung Pierre Bonaparte's, noch bevorsteht. Was wird der Ein¬
druck sein, wenn derselbe in geheimem Verfahren durch den Ausnahmegerichts¬
hof, welcher für Mitglieder der kaiserlichen Familie bestimmt ist, zu einer
vielleicht zweijährigen Festungsstrafe verurtheilt wird, weil ihn Victor Noir
angegriffen?

Wir halten demnach, wie gesagt, den Sieg der Regierung für einen
solchen, den sie vielleicht bald bereuen wird; auch Guizot war formell im
Rechte, als er die zahlreichen Preßverurtheilungen durchsetzte und zwar durch
Geschworene. Aber er erklärt offen in seinen Denkwürdigkeiten, diese Verfol¬
gung der Preßlicenz für einen politischen Fehler. Die einzige gute Seite der
Verurtheilung Rochesorts ist, daß er feiner bürgerlichen Ehrenrechte nicht be¬
raubt ist, also nach wie vor Abgeordneter bleibt, und die Aufregung, welche
eine Neuwahl in Paris jetzt hervorrufen würde, vermieden wird. Aber
hierin sowie in der ganzen verhältnißmäßigen Milde des Spruches liegt doch
eine Inkonsequenz; entweder lag in dem Artikel die Aufreizung zum Hoch¬
verrat!) und dann mußte eine scharfe Strafe eintreten, oder es lag kein der¬
artiges schweres Vergehen vor und dann mußte die Regierung den Fall
nicht zur Cabinetsfrage machen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/228>, abgerufen am 26.06.2024.