Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.ten in einer Gesammtlänge von fünfhundert deutschen Meilen oder 3500 In Deutschland haben seit dem Beginn des neuen Jahres wiederum ten in einer Gesammtlänge von fünfhundert deutschen Meilen oder 3500 In Deutschland haben seit dem Beginn des neuen Jahres wiederum <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0205" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123293"/> <p xml:id="ID_554" prev="#ID_553"> ten in einer Gesammtlänge von fünfhundert deutschen Meilen oder 3500<lb/> Werst an), — in den Eingeweiden des Staatskörpers haust eine Krankheit, die<lb/> zwar noch nicht gefährlich scheint, den Patienten aber um alle Ruhe und<lb/> alles Behagen bringt. Nicht die neuentdeckte Socialistenverschwörung allein<lb/> macht der Regierung Sorge, der leidenschaftliche Gegensatz in der Bureau¬<lb/> kratie wie in der Gesellschaft hadernder Gegensätze lähmt die öffentliche Ge¬<lb/> sundheit und kreuzt die Thätigkeit der Staatsmaschine. Von den großen<lb/> Aufgaben, zu deren gleichzeitiger Lösung man sich im Rausch der Freude<lb/> eben die Beendigung des polnischen Aufstandes anheischig machte, geht<lb/> es mit keiner vorwärts. Die Ausführung der Justizreform geräth in Stocken,<lb/> den Functionen der Selbstverwaltung, welche auf die Provinzial-Versammlun-<lb/> gen übertragen worden sind, fehlt es an tauglichen Trägern, die agrarischen<lb/> Zustände gerathen in immer traurigeren Verfall, die Systeme für die Russi-<lb/> fikation der westlichen Provinzen müssen allmonatlich verändert werden, wäh¬<lb/> rend die Sache selbst um keinen Schritt weiter kommt, verwilderte Bauern<lb/> und unfähige Beamte auf den Trümmern einer zerstörten Cultur hadern, ohne zu<lb/> einem Neubau auch nur das Fundament legen zu können. Mit dem Geständnis<lb/> daß der öffentliche Geist versiele und die besten Patrioten sich entmuthigt zeigten,<lb/> hat die Most.Ztg. ihren Rückblick auf Rußlands innere Entwicklung während des<lb/> I. 1869 beschließen müssen. -Das System der „rein nationalen inneren Po¬<lb/> litik" geht nicht nur an seinen inneren Widersprüchen und dem Mangel brauch¬<lb/> barer Werkzeuge, sondern zugleich an der Feindseligkeit der in ihren wichtig¬<lb/> sten Interessen bedrohten höheren Classen und dem Mangel an Einheit zu<lb/> Grunde, der zu den characteristischcsten Eigenschaften der russischen Regierung<lb/> seit 1856 gehört. Dicht nebeneinander sitzen europäisch und slavisch gesinnte<lb/> Minister, Anhänger des nationalen Bauernstaats, Adepten einer demokrati¬<lb/> schen Monarchie nach neu französischem Muster, und Aristokraten, die vor<lb/> Allem das Bündniß des unumschränkten Herrschers mit den begehrlichen<lb/> Massen auflösen wollen. Jede dieser Richtungen hat eine weitverzweigte, nicht<lb/> immer gefügige Anhängerschaft mit deren Vorurtheilen, Neigungen und In¬<lb/> teressen gerechnet werden muß — Reibungen und Verwirrungen in der Staats¬<lb/> maschine verstehen sich darum von selbst. — Indessen von dem bevor-<lb/> stehenden Eintreffen der chinesischen Gesandtschaft Ausdehnung der russischen<lb/> Machtsphäre nach Osten erwartet wird, ist die Regierung hauptsächlich mit<lb/> der Neubewassnung der Armee und mit Russificationsmaßregeln in Litthauen<lb/> und Polen beschäftig:, freilich solchen die die nationale Partei schon wegen<lb/> ihrer Urheber, der kaiserlichen Statthalter in Warschau und Wilna, für unge¬<lb/> nügend hält.</p><lb/> <p xml:id="ID_555" next="#ID_556"> In Deutschland haben seit dem Beginn des neuen Jahres wiederum<lb/> parlamentarische Vorgänge den Mittelpunkt der Interessen gebildet. Indessen<lb/> die Phalanx schwäbischer Republikaner und Particularisten sich anschickte<lb/> ihre Regierung durch Verweigerung der zur Durchführung des Alliance-<lb/> vertrages nothwendigen Mittel zum Bruch mit dem deutschen Zollverbande<lb/> zu zwingen, eröffnete König Ludwig II. die bayrischen Kammern mit einer<lb/> Thronrede, welche trotz ihrer platonischen Wünsche für eine künftige Eini¬<lb/> gung mit dem Nordbunde wesentlich particularistisch gefärbt war und so dem<lb/> ultramontanen Ausfall der Neuwahlen Rechnung trug. Wenn auch außer<lb/> Zweifel steht, daß das Cabinet Hohenlohe dem Andrang der Partei, welche<lb/> sich des Präsidiums und Bureaus der Kammer sofort bemächtigt hat, nicht<lb/> weichen wird, so erscheint die Stellung desselben doch schwierig genug, um<lb/> den Freunden der nationalen Sache die Frage vorzulegen, ob dieser Sache<lb/> durch die Zwischenregierung eines ultramontanen Cabinets nicht besser gedient ge¬<lb/> wesen wäre, als durch den Fortbestand eines durch hundert Rücksichten ge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0205]
ten in einer Gesammtlänge von fünfhundert deutschen Meilen oder 3500
Werst an), — in den Eingeweiden des Staatskörpers haust eine Krankheit, die
zwar noch nicht gefährlich scheint, den Patienten aber um alle Ruhe und
alles Behagen bringt. Nicht die neuentdeckte Socialistenverschwörung allein
macht der Regierung Sorge, der leidenschaftliche Gegensatz in der Bureau¬
kratie wie in der Gesellschaft hadernder Gegensätze lähmt die öffentliche Ge¬
sundheit und kreuzt die Thätigkeit der Staatsmaschine. Von den großen
Aufgaben, zu deren gleichzeitiger Lösung man sich im Rausch der Freude
eben die Beendigung des polnischen Aufstandes anheischig machte, geht
es mit keiner vorwärts. Die Ausführung der Justizreform geräth in Stocken,
den Functionen der Selbstverwaltung, welche auf die Provinzial-Versammlun-
gen übertragen worden sind, fehlt es an tauglichen Trägern, die agrarischen
Zustände gerathen in immer traurigeren Verfall, die Systeme für die Russi-
fikation der westlichen Provinzen müssen allmonatlich verändert werden, wäh¬
rend die Sache selbst um keinen Schritt weiter kommt, verwilderte Bauern
und unfähige Beamte auf den Trümmern einer zerstörten Cultur hadern, ohne zu
einem Neubau auch nur das Fundament legen zu können. Mit dem Geständnis
daß der öffentliche Geist versiele und die besten Patrioten sich entmuthigt zeigten,
hat die Most.Ztg. ihren Rückblick auf Rußlands innere Entwicklung während des
I. 1869 beschließen müssen. -Das System der „rein nationalen inneren Po¬
litik" geht nicht nur an seinen inneren Widersprüchen und dem Mangel brauch¬
barer Werkzeuge, sondern zugleich an der Feindseligkeit der in ihren wichtig¬
sten Interessen bedrohten höheren Classen und dem Mangel an Einheit zu
Grunde, der zu den characteristischcsten Eigenschaften der russischen Regierung
seit 1856 gehört. Dicht nebeneinander sitzen europäisch und slavisch gesinnte
Minister, Anhänger des nationalen Bauernstaats, Adepten einer demokrati¬
schen Monarchie nach neu französischem Muster, und Aristokraten, die vor
Allem das Bündniß des unumschränkten Herrschers mit den begehrlichen
Massen auflösen wollen. Jede dieser Richtungen hat eine weitverzweigte, nicht
immer gefügige Anhängerschaft mit deren Vorurtheilen, Neigungen und In¬
teressen gerechnet werden muß — Reibungen und Verwirrungen in der Staats¬
maschine verstehen sich darum von selbst. — Indessen von dem bevor-
stehenden Eintreffen der chinesischen Gesandtschaft Ausdehnung der russischen
Machtsphäre nach Osten erwartet wird, ist die Regierung hauptsächlich mit
der Neubewassnung der Armee und mit Russificationsmaßregeln in Litthauen
und Polen beschäftig:, freilich solchen die die nationale Partei schon wegen
ihrer Urheber, der kaiserlichen Statthalter in Warschau und Wilna, für unge¬
nügend hält.
In Deutschland haben seit dem Beginn des neuen Jahres wiederum
parlamentarische Vorgänge den Mittelpunkt der Interessen gebildet. Indessen
die Phalanx schwäbischer Republikaner und Particularisten sich anschickte
ihre Regierung durch Verweigerung der zur Durchführung des Alliance-
vertrages nothwendigen Mittel zum Bruch mit dem deutschen Zollverbande
zu zwingen, eröffnete König Ludwig II. die bayrischen Kammern mit einer
Thronrede, welche trotz ihrer platonischen Wünsche für eine künftige Eini¬
gung mit dem Nordbunde wesentlich particularistisch gefärbt war und so dem
ultramontanen Ausfall der Neuwahlen Rechnung trug. Wenn auch außer
Zweifel steht, daß das Cabinet Hohenlohe dem Andrang der Partei, welche
sich des Präsidiums und Bureaus der Kammer sofort bemächtigt hat, nicht
weichen wird, so erscheint die Stellung desselben doch schwierig genug, um
den Freunden der nationalen Sache die Frage vorzulegen, ob dieser Sache
durch die Zwischenregierung eines ultramontanen Cabinets nicht besser gedient ge¬
wesen wäre, als durch den Fortbestand eines durch hundert Rücksichten ge-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |