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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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seinem eiligen Gange von Patient zu Patient völlig außer Stande. Er
konnte die Handhabung in einem gegebenen Falle wohl näher anordnen,
darüber wachen, daß der Anordnung gemäß von Tag zu Tag verfahren werde,
aber wenig oder nichts selber dazu thun. Hiefür mußte er sich auf diejenigen
verlassen, in deren Händen der Kranke ununterbrochen sich befand. Von ihnen
also begann der Erfolg einer Cur hauptsächlich abzuhängen. Befolgten sie
treu und gewissenhaft die Vorschriften des Arztes, ergänzten sie dieselben unter
Umständen in seinem Sinne mit richtigem Tacte, hielten sie sorgfältig alles
fern, was verschlimmernd auf den Verlauf der Krankheit einwirken konnte,
so hatte der Arzt Aussicht seinen Zweck zu erreichen. Im entgegengesetzten
Falle war er so übel dran wie ein Feldherr, dem brauchbare Officiere
fehlen.

Dieser Umschwung in dem gegenseitigen Verhältniß von Arzt und Kranken¬
pfleger ist erst im Laufe des letzten Jahrzehnts in Deutschland recht zum
allgemeinen Bewußtsein gekommen. Die Kriege von 1864 und 1866 haben
viel dazu beigetragen; sie häuften zeitlich und räumlich die Fälle an, in denen
der Mangel tüchtiger Krankenpflege besonders fühlbar wurde, ' und über¬
zeugten eine Menge Aerzte gleichzeitig, daß in der medicinischen Organi¬
sation der Nation eine große Lücke auszufüllen sei. Was in den Barm¬
herzigen Schwestern und Diaconissen von berufsmäßigen Krankenpflegerinnen
vorhanden war, stieg außerordentlich in der allgemeinen Werthschätzung. Die
Aerzte, denen bis dahin ganz überwiegend die religiöse Richtung dieser Damen
viel fataler gewesen war, als ihre Hingebung und Praxis in der Behand¬
lung von Kranken gutmachen konnte, fingen an ihre Sprache zu ändern.
Sie erkannten noch immer nicht das Bedenkliche dieser Einkleidung, aber das
Bedürfniß gebildeter und berufsmäßiger Krankenpflegerinnen lebte nun so
stark in ihnen, daß sie die Ordenstracht nöthigenfalls in den Kauf nehmen
wollten. Wenn einmal keine anderen Gehilfinnen höheren Grades zu haben
seien -- dann lieber diese als gar keine.

Aus dieser Stimmung des ärztlichen Standes, der sich dem Publicum,
soweit es in Betracht kam. leicht mittheilte, sind seit 1864 mehrere neue
Diaconissen-Anstalten entstanden in Orten und Gegenden, wo dieser Zweig
der inneren Mission früher keine Stätte gefunden hatte. Einzeln, z. B. in
Bremen, wurde von liberaler Seite her versucht, sobald das in conservativen
und altgläubig-strengkirchlichen Kreisen geplante Unternehmen ans Licht trat,
sich an demselben hilfreich zu betheiligen. Aber die Urheber waren nicht geneigt,
sich in die Leitung und Controle der Anstalten mit liberalen Leuten zu theilen.
Auch nachdem alle principiellen Schwierigkeiten überwunden waren, blieb die
persönliche Abneigung unüberwunden zurück. Die Strengkirchlichen steifem
sich im Stillen darauf, daß die Liberalen allein dergleichen nicht zu Stande
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seinem eiligen Gange von Patient zu Patient völlig außer Stande. Er
konnte die Handhabung in einem gegebenen Falle wohl näher anordnen,
darüber wachen, daß der Anordnung gemäß von Tag zu Tag verfahren werde,
aber wenig oder nichts selber dazu thun. Hiefür mußte er sich auf diejenigen
verlassen, in deren Händen der Kranke ununterbrochen sich befand. Von ihnen
also begann der Erfolg einer Cur hauptsächlich abzuhängen. Befolgten sie
treu und gewissenhaft die Vorschriften des Arztes, ergänzten sie dieselben unter
Umständen in seinem Sinne mit richtigem Tacte, hielten sie sorgfältig alles
fern, was verschlimmernd auf den Verlauf der Krankheit einwirken konnte,
so hatte der Arzt Aussicht seinen Zweck zu erreichen. Im entgegengesetzten
Falle war er so übel dran wie ein Feldherr, dem brauchbare Officiere
fehlen.

Dieser Umschwung in dem gegenseitigen Verhältniß von Arzt und Kranken¬
pfleger ist erst im Laufe des letzten Jahrzehnts in Deutschland recht zum
allgemeinen Bewußtsein gekommen. Die Kriege von 1864 und 1866 haben
viel dazu beigetragen; sie häuften zeitlich und räumlich die Fälle an, in denen
der Mangel tüchtiger Krankenpflege besonders fühlbar wurde, ' und über¬
zeugten eine Menge Aerzte gleichzeitig, daß in der medicinischen Organi¬
sation der Nation eine große Lücke auszufüllen sei. Was in den Barm¬
herzigen Schwestern und Diaconissen von berufsmäßigen Krankenpflegerinnen
vorhanden war, stieg außerordentlich in der allgemeinen Werthschätzung. Die
Aerzte, denen bis dahin ganz überwiegend die religiöse Richtung dieser Damen
viel fataler gewesen war, als ihre Hingebung und Praxis in der Behand¬
lung von Kranken gutmachen konnte, fingen an ihre Sprache zu ändern.
Sie erkannten noch immer nicht das Bedenkliche dieser Einkleidung, aber das
Bedürfniß gebildeter und berufsmäßiger Krankenpflegerinnen lebte nun so
stark in ihnen, daß sie die Ordenstracht nöthigenfalls in den Kauf nehmen
wollten. Wenn einmal keine anderen Gehilfinnen höheren Grades zu haben
seien — dann lieber diese als gar keine.

Aus dieser Stimmung des ärztlichen Standes, der sich dem Publicum,
soweit es in Betracht kam. leicht mittheilte, sind seit 1864 mehrere neue
Diaconissen-Anstalten entstanden in Orten und Gegenden, wo dieser Zweig
der inneren Mission früher keine Stätte gefunden hatte. Einzeln, z. B. in
Bremen, wurde von liberaler Seite her versucht, sobald das in conservativen
und altgläubig-strengkirchlichen Kreisen geplante Unternehmen ans Licht trat,
sich an demselben hilfreich zu betheiligen. Aber die Urheber waren nicht geneigt,
sich in die Leitung und Controle der Anstalten mit liberalen Leuten zu theilen.
Auch nachdem alle principiellen Schwierigkeiten überwunden waren, blieb die
persönliche Abneigung unüberwunden zurück. Die Strengkirchlichen steifem
sich im Stillen darauf, daß die Liberalen allein dergleichen nicht zu Stande
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/185>, abgerufen am 26.06.2024.