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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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nennen pflegen, den Keim alles Dichtens und Sinnens, den ewigen Born
aller Kunst und Philosophie. Freilich wie wer kein Poet geworden ist, sich da¬
mit beschwichtigen mag, daß die besten Dichter ihre Gedichte nicht aufge¬
schrieben haben oder vielleicht auch die aufgeschriebenen Gedichte nur zufällig
keinen Verleger oder doch keine Leser fanden, so hat man auch wohl von
Latium behaupten wollen, daß dort ebenfalls homerische Epen und Hymnen
einstmals gequollen und gesungen und daß sie nur leider spurlos verschollen
und verklungen sind. Aber es sind dies lose und genau genommen gottlose
Reden; denn wie unbarmherzig die Natur gegen das Individuum ist, sie ist
es nicht gegen die Gattung. Auch darin waltet die Vorsehung, daß uns
von den Aegyptern allein das Handwerk, von den Griechen allein die Kunst,
von den Römern allein der Staat in vollem und reinem Bilde überliefert
sind. Vollkommene Formen, einmal entwickelt, sind auch von Dauer. --
Schwerlich also hat es jemals eine latinische Volkssage und Volkspoesie im
wahren Sinne des Wortes gegeben; und auch von dieser Seite her fällt kein
Licht auf die früheste Geschichte dieses Stammes.

Das Wenige, was wir von den ältesten Zuständen Roms wissen, hat
sich größtentheils in der religiösen Ueberlieferung erhalten. Zwar ist auch
diese in früher Zeit von der färben- und gestaltreicheren griechischen Religion
so überfluthet worden, daß die einzelnen Göttergestalten, auch wo sie einen
ursprünglich lateinischen Namen tragen, mehr oder minder unter dem Einfluß
der analogen griechischen stehen und wir darauf verzichten müssen, von dem
nationalen Götterkreis ein deutliches und vollständiges Bild zu gewinnen.
Aber das Ritual ist stetiger als das Dogma, und in jenem lebt noch man¬
ches uralte Lebensbild, freilich erstarrt und selten verstanden. Wir kennen
den Römer, wo er in der Stadt öffentlich erscheint, nur in dem leichten kleid¬
samen Wollmantel, unbedeckten Hauptes und ohne Stock in der Hand. Aber
das Ritual zeigt, daß einstmals der Bürger auf der Straße dicken Doppel¬
überwurf trug, den aus der selbstgewonnenen Wolle die Ehefrau dem Gatten
selber spann und selber wob; daß es einstmals als unschicklich galt, öffentlich
barhaupt zu erscheinen, und daß der Römer auf der Straße eine Leder¬
kappe trug, oben in eine Spitze auslaufend, beinahe wie die unserer Helme,
oder auch allenfalls die Kapuze des Umwurfs über den Kopf zog; daß der
Bürger nicht anders ausging, als mit dem Stock in der Hand, nicht dem
Zierstöckchen unserer Commis, sondern einem Handsesten Stab, den wahrschein¬
lich späterhin die Polizei verbannt oder vielmehr für sich selber reservirt hat.
Ebenso können wir aus diesem Ritual nachweisen, nicht bloß daß die Getreide¬
mühle und das gebackene Brot den Römern einstmals als unerhörte Neue¬
rungen erschienen sind, sondern auch, daß Leinewand statt der Wolle eine
Zeit lang ebenso galt, wie unseren frommen Tanten die Crinoline; daß man


nennen pflegen, den Keim alles Dichtens und Sinnens, den ewigen Born
aller Kunst und Philosophie. Freilich wie wer kein Poet geworden ist, sich da¬
mit beschwichtigen mag, daß die besten Dichter ihre Gedichte nicht aufge¬
schrieben haben oder vielleicht auch die aufgeschriebenen Gedichte nur zufällig
keinen Verleger oder doch keine Leser fanden, so hat man auch wohl von
Latium behaupten wollen, daß dort ebenfalls homerische Epen und Hymnen
einstmals gequollen und gesungen und daß sie nur leider spurlos verschollen
und verklungen sind. Aber es sind dies lose und genau genommen gottlose
Reden; denn wie unbarmherzig die Natur gegen das Individuum ist, sie ist
es nicht gegen die Gattung. Auch darin waltet die Vorsehung, daß uns
von den Aegyptern allein das Handwerk, von den Griechen allein die Kunst,
von den Römern allein der Staat in vollem und reinem Bilde überliefert
sind. Vollkommene Formen, einmal entwickelt, sind auch von Dauer. —
Schwerlich also hat es jemals eine latinische Volkssage und Volkspoesie im
wahren Sinne des Wortes gegeben; und auch von dieser Seite her fällt kein
Licht auf die früheste Geschichte dieses Stammes.

Das Wenige, was wir von den ältesten Zuständen Roms wissen, hat
sich größtentheils in der religiösen Ueberlieferung erhalten. Zwar ist auch
diese in früher Zeit von der färben- und gestaltreicheren griechischen Religion
so überfluthet worden, daß die einzelnen Göttergestalten, auch wo sie einen
ursprünglich lateinischen Namen tragen, mehr oder minder unter dem Einfluß
der analogen griechischen stehen und wir darauf verzichten müssen, von dem
nationalen Götterkreis ein deutliches und vollständiges Bild zu gewinnen.
Aber das Ritual ist stetiger als das Dogma, und in jenem lebt noch man¬
ches uralte Lebensbild, freilich erstarrt und selten verstanden. Wir kennen
den Römer, wo er in der Stadt öffentlich erscheint, nur in dem leichten kleid¬
samen Wollmantel, unbedeckten Hauptes und ohne Stock in der Hand. Aber
das Ritual zeigt, daß einstmals der Bürger auf der Straße dicken Doppel¬
überwurf trug, den aus der selbstgewonnenen Wolle die Ehefrau dem Gatten
selber spann und selber wob; daß es einstmals als unschicklich galt, öffentlich
barhaupt zu erscheinen, und daß der Römer auf der Straße eine Leder¬
kappe trug, oben in eine Spitze auslaufend, beinahe wie die unserer Helme,
oder auch allenfalls die Kapuze des Umwurfs über den Kopf zog; daß der
Bürger nicht anders ausging, als mit dem Stock in der Hand, nicht dem
Zierstöckchen unserer Commis, sondern einem Handsesten Stab, den wahrschein¬
lich späterhin die Polizei verbannt oder vielmehr für sich selber reservirt hat.
Ebenso können wir aus diesem Ritual nachweisen, nicht bloß daß die Getreide¬
mühle und das gebackene Brot den Römern einstmals als unerhörte Neue¬
rungen erschienen sind, sondern auch, daß Leinewand statt der Wolle eine
Zeit lang ebenso galt, wie unseren frommen Tanten die Crinoline; daß man


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[0168] nennen pflegen, den Keim alles Dichtens und Sinnens, den ewigen Born aller Kunst und Philosophie. Freilich wie wer kein Poet geworden ist, sich da¬ mit beschwichtigen mag, daß die besten Dichter ihre Gedichte nicht aufge¬ schrieben haben oder vielleicht auch die aufgeschriebenen Gedichte nur zufällig keinen Verleger oder doch keine Leser fanden, so hat man auch wohl von Latium behaupten wollen, daß dort ebenfalls homerische Epen und Hymnen einstmals gequollen und gesungen und daß sie nur leider spurlos verschollen und verklungen sind. Aber es sind dies lose und genau genommen gottlose Reden; denn wie unbarmherzig die Natur gegen das Individuum ist, sie ist es nicht gegen die Gattung. Auch darin waltet die Vorsehung, daß uns von den Aegyptern allein das Handwerk, von den Griechen allein die Kunst, von den Römern allein der Staat in vollem und reinem Bilde überliefert sind. Vollkommene Formen, einmal entwickelt, sind auch von Dauer. — Schwerlich also hat es jemals eine latinische Volkssage und Volkspoesie im wahren Sinne des Wortes gegeben; und auch von dieser Seite her fällt kein Licht auf die früheste Geschichte dieses Stammes. Das Wenige, was wir von den ältesten Zuständen Roms wissen, hat sich größtentheils in der religiösen Ueberlieferung erhalten. Zwar ist auch diese in früher Zeit von der färben- und gestaltreicheren griechischen Religion so überfluthet worden, daß die einzelnen Göttergestalten, auch wo sie einen ursprünglich lateinischen Namen tragen, mehr oder minder unter dem Einfluß der analogen griechischen stehen und wir darauf verzichten müssen, von dem nationalen Götterkreis ein deutliches und vollständiges Bild zu gewinnen. Aber das Ritual ist stetiger als das Dogma, und in jenem lebt noch man¬ ches uralte Lebensbild, freilich erstarrt und selten verstanden. Wir kennen den Römer, wo er in der Stadt öffentlich erscheint, nur in dem leichten kleid¬ samen Wollmantel, unbedeckten Hauptes und ohne Stock in der Hand. Aber das Ritual zeigt, daß einstmals der Bürger auf der Straße dicken Doppel¬ überwurf trug, den aus der selbstgewonnenen Wolle die Ehefrau dem Gatten selber spann und selber wob; daß es einstmals als unschicklich galt, öffentlich barhaupt zu erscheinen, und daß der Römer auf der Straße eine Leder¬ kappe trug, oben in eine Spitze auslaufend, beinahe wie die unserer Helme, oder auch allenfalls die Kapuze des Umwurfs über den Kopf zog; daß der Bürger nicht anders ausging, als mit dem Stock in der Hand, nicht dem Zierstöckchen unserer Commis, sondern einem Handsesten Stab, den wahrschein¬ lich späterhin die Polizei verbannt oder vielmehr für sich selber reservirt hat. Ebenso können wir aus diesem Ritual nachweisen, nicht bloß daß die Getreide¬ mühle und das gebackene Brot den Römern einstmals als unerhörte Neue¬ rungen erschienen sind, sondern auch, daß Leinewand statt der Wolle eine Zeit lang ebenso galt, wie unseren frommen Tanten die Crinoline; daß man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/168>, abgerufen am 26.06.2024.