ganze bewohnte Erde umfaßt. Das Weib wird keinen Augenblick ihre Ketten los, sie ist durch die lange Knechtschaft so herabgewürdigt, daß sie ihrer eigenen Erniedrigung nicht mehr bewußt ist, ja selbst ihre Fesseln liebt. Sie weiß nicht einmal mehr, was sie wünschen soll, sie hat so wenig Gelegenheit gehabt, ihre wahre Natur zu entwickeln, daß wir gar nicht sagen können, was sie leisten kann.
Wir glauben zu träumen, wenn wir diese in den stärksten Farben auf¬ getragene Schilderung lesen; wo ist die Welt, fragen wir unwillkürlich, wo der eine Theil des Menschengeschlechts so herabgewürdigt wird? Spricht der Verfasser nicht vielleicht blos von den orientalischen Frauen, deren Tage in der Erniedrigung des Harems verfließen oder von den indischen Sqaws oder von irgend einem anderen uncivilisirten Lande, wo eine Sclaverei herrscht, schlimmer als die des Onkel Tom, der doch nach vollendetem Tagewerke in seiner Hütte Herr über seine Zeit war, während das Wesen, das Mill uns schildert, in keinem Augenblick seines Lebens das lastende Joch abschütteln kann? Aber nein, dies irdische Pandämonium ist die christlich-civilisirte Welt, in der wir alle leben, und der Verfasser belehrt uns, daß aller Glanz und Reiz, der vor unseren Augen die weibliche Welt umgibt. Trug ist: die Ketten mögen mit Rosenkränzen umwunden sein, aber es bleiben Ketten. Mit solchen Uebertreibungen (overstÄtilig tus eass nennt es der Engländer) schadet man freilich seiner Sache nur, weil man sich mit der jedem Auge offen lie¬ genden Wirklichkeit in zu starken Widerspruch setzt; indeß wir sind es ^on der irischen Landfrage her gewohnt, daß Mill die Farben nicht schont, wir wollen deshalb nicht mit ihm rechten und nur prüfen, welcher Kern von Wahrheit seiner Auffassung zu Grunde liegt. Und hier stoßen wir gleich auf einen Punkt, der zu merkwürdig ist, um ihn zu übergehen. Mill be¬ ansprucht, ein kosmopolitisches Buch zu schreiben, das die Lage der Frauen im Allgemeinen erörtern soll, und doch geht seine eigentliche Kritik von Uebelständen aus, die specifisch englischer Natur sind. Er schreibt in Avignon, seiner selbstgewählten zweiten Heimath, an die ihn das Grab seiner Frau und der milde Himmel des SAdens fesseln, aber seine ganze Gedankenwelt ist in den Nebeln Altenglands geblieben, wenn er auch noch so viel gegen natio¬ nale Beschränktheit eifert. Seiner ganzen Rechtsauffassung der Ehe liegt die englische Gesetzgebung zu Grunde, die drei Punkte, welche er als für die rechtliche Ungleichheit der Frauen charakteristisch hervorhebt, passen kaum auf ein anderes Land als Großbritannien: nämlich die Schwierigkeit der Trennung einer unglücklichen Ehe, die vermögensrechtliche Unmündigkeit der Frau und ihre rechtliche Einflußlvstgkeit auf das Schicksal der Kinder, soweit es von den Eltern abhängt. Was den ersten Punkt anlangt, so ist, abgesehen.davon, daß es sich hier nicht um die Frauen allein, sondern um eine beide Gatten
Grenzboten IV. 1S69. 64
ganze bewohnte Erde umfaßt. Das Weib wird keinen Augenblick ihre Ketten los, sie ist durch die lange Knechtschaft so herabgewürdigt, daß sie ihrer eigenen Erniedrigung nicht mehr bewußt ist, ja selbst ihre Fesseln liebt. Sie weiß nicht einmal mehr, was sie wünschen soll, sie hat so wenig Gelegenheit gehabt, ihre wahre Natur zu entwickeln, daß wir gar nicht sagen können, was sie leisten kann.
Wir glauben zu träumen, wenn wir diese in den stärksten Farben auf¬ getragene Schilderung lesen; wo ist die Welt, fragen wir unwillkürlich, wo der eine Theil des Menschengeschlechts so herabgewürdigt wird? Spricht der Verfasser nicht vielleicht blos von den orientalischen Frauen, deren Tage in der Erniedrigung des Harems verfließen oder von den indischen Sqaws oder von irgend einem anderen uncivilisirten Lande, wo eine Sclaverei herrscht, schlimmer als die des Onkel Tom, der doch nach vollendetem Tagewerke in seiner Hütte Herr über seine Zeit war, während das Wesen, das Mill uns schildert, in keinem Augenblick seines Lebens das lastende Joch abschütteln kann? Aber nein, dies irdische Pandämonium ist die christlich-civilisirte Welt, in der wir alle leben, und der Verfasser belehrt uns, daß aller Glanz und Reiz, der vor unseren Augen die weibliche Welt umgibt. Trug ist: die Ketten mögen mit Rosenkränzen umwunden sein, aber es bleiben Ketten. Mit solchen Uebertreibungen (overstÄtilig tus eass nennt es der Engländer) schadet man freilich seiner Sache nur, weil man sich mit der jedem Auge offen lie¬ genden Wirklichkeit in zu starken Widerspruch setzt; indeß wir sind es ^on der irischen Landfrage her gewohnt, daß Mill die Farben nicht schont, wir wollen deshalb nicht mit ihm rechten und nur prüfen, welcher Kern von Wahrheit seiner Auffassung zu Grunde liegt. Und hier stoßen wir gleich auf einen Punkt, der zu merkwürdig ist, um ihn zu übergehen. Mill be¬ ansprucht, ein kosmopolitisches Buch zu schreiben, das die Lage der Frauen im Allgemeinen erörtern soll, und doch geht seine eigentliche Kritik von Uebelständen aus, die specifisch englischer Natur sind. Er schreibt in Avignon, seiner selbstgewählten zweiten Heimath, an die ihn das Grab seiner Frau und der milde Himmel des SAdens fesseln, aber seine ganze Gedankenwelt ist in den Nebeln Altenglands geblieben, wenn er auch noch so viel gegen natio¬ nale Beschränktheit eifert. Seiner ganzen Rechtsauffassung der Ehe liegt die englische Gesetzgebung zu Grunde, die drei Punkte, welche er als für die rechtliche Ungleichheit der Frauen charakteristisch hervorhebt, passen kaum auf ein anderes Land als Großbritannien: nämlich die Schwierigkeit der Trennung einer unglücklichen Ehe, die vermögensrechtliche Unmündigkeit der Frau und ihre rechtliche Einflußlvstgkeit auf das Schicksal der Kinder, soweit es von den Eltern abhängt. Was den ersten Punkt anlangt, so ist, abgesehen.davon, daß es sich hier nicht um die Frauen allein, sondern um eine beide Gatten
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[0513]
ganze bewohnte Erde umfaßt. Das Weib wird keinen Augenblick ihre Ketten
los, sie ist durch die lange Knechtschaft so herabgewürdigt, daß sie ihrer
eigenen Erniedrigung nicht mehr bewußt ist, ja selbst ihre Fesseln liebt. Sie
weiß nicht einmal mehr, was sie wünschen soll, sie hat so wenig Gelegenheit
gehabt, ihre wahre Natur zu entwickeln, daß wir gar nicht sagen können, was
sie leisten kann.
Wir glauben zu träumen, wenn wir diese in den stärksten Farben auf¬
getragene Schilderung lesen; wo ist die Welt, fragen wir unwillkürlich, wo
der eine Theil des Menschengeschlechts so herabgewürdigt wird? Spricht der
Verfasser nicht vielleicht blos von den orientalischen Frauen, deren Tage in
der Erniedrigung des Harems verfließen oder von den indischen Sqaws oder
von irgend einem anderen uncivilisirten Lande, wo eine Sclaverei herrscht,
schlimmer als die des Onkel Tom, der doch nach vollendetem Tagewerke in
seiner Hütte Herr über seine Zeit war, während das Wesen, das Mill uns
schildert, in keinem Augenblick seines Lebens das lastende Joch abschütteln
kann? Aber nein, dies irdische Pandämonium ist die christlich-civilisirte Welt,
in der wir alle leben, und der Verfasser belehrt uns, daß aller Glanz und
Reiz, der vor unseren Augen die weibliche Welt umgibt. Trug ist: die Ketten
mögen mit Rosenkränzen umwunden sein, aber es bleiben Ketten. Mit
solchen Uebertreibungen (overstÄtilig tus eass nennt es der Engländer) schadet
man freilich seiner Sache nur, weil man sich mit der jedem Auge offen lie¬
genden Wirklichkeit in zu starken Widerspruch setzt; indeß wir sind es ^on
der irischen Landfrage her gewohnt, daß Mill die Farben nicht schont, wir
wollen deshalb nicht mit ihm rechten und nur prüfen, welcher Kern von
Wahrheit seiner Auffassung zu Grunde liegt. Und hier stoßen wir gleich
auf einen Punkt, der zu merkwürdig ist, um ihn zu übergehen. Mill be¬
ansprucht, ein kosmopolitisches Buch zu schreiben, das die Lage der Frauen
im Allgemeinen erörtern soll, und doch geht seine eigentliche Kritik von
Uebelständen aus, die specifisch englischer Natur sind. Er schreibt in Avignon,
seiner selbstgewählten zweiten Heimath, an die ihn das Grab seiner Frau
und der milde Himmel des SAdens fesseln, aber seine ganze Gedankenwelt ist
in den Nebeln Altenglands geblieben, wenn er auch noch so viel gegen natio¬
nale Beschränktheit eifert. Seiner ganzen Rechtsauffassung der Ehe liegt die
englische Gesetzgebung zu Grunde, die drei Punkte, welche er als für die
rechtliche Ungleichheit der Frauen charakteristisch hervorhebt, passen kaum auf
ein anderes Land als Großbritannien: nämlich die Schwierigkeit der Trennung
einer unglücklichen Ehe, die vermögensrechtliche Unmündigkeit der Frau und
ihre rechtliche Einflußlvstgkeit auf das Schicksal der Kinder, soweit es von
den Eltern abhängt. Was den ersten Punkt anlangt, so ist, abgesehen.davon,
daß es sich hier nicht um die Frauen allein, sondern um eine beide Gatten
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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/513>, abgerufen am 22.01.2025.
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