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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Anmaßung und, bei allem Schein der Tiefe, dasselbe Unvermögen, in den
eigentlichen Kern der Gegenstände zu dringen. Er sah, -- was Schlegel
eben befürchtet hatte, -- in dem Urheber dieser Sprüche einen beschränkten
Verehrer des Alterthums, der seine engherzige, kurzsichtige Parteilichkeit bis
zum Lächerlichen trieb, der "dem hitzigen Fieber der Gräcomanie" unrettbar
verfallen war. Aus den gewagten Sätzen, die hier in die engste und ge¬
fährlichste Nachbarschaft gebracht waren, schienen die grellsten Widersprüche
hervorzublicken. Wenn Schiller auf S. 399 des Auszuges las:


"Charakterlosigkeit scheint der einzige Charakter der modernen
Poesie. Verwirrung das Gemeinsame ihrer Masse, Gesetzlosigkeit der
Geist ihrer Geschichte und Skepticismus das Resultat ihrer Theorie" --

wenn er diesen umfassenden Urtheilsspruch in Betrachtung zog und dann gleich
hernach (auf S. 379) von dem Autor vernahm, daß "nichts die Künstlichkeit
der modernen ästhetischen Bildung besser erläutern und bestätigen könne, als
das große Uebergewicht des Individuellen, Charakteristischen und Philosoph!-
schen in der ganzen Masse der modernen Poesie", -- so wuchsen diese
scheinbar sich widersprechenden Sätze wie von selbst zu dem lustigen Xenion
zusammen:


Völlig charakterlos ist die Poesie der Modernen,
Denn sie verstehen blos charakteristisch zu sein.

Nun begründet es freilich schon an und für sich keinen wirklichen Wider¬
spruch, wenn man sagt: eben weil in der ganzen Masse der modernen Poesie
alles Einzelne in einseitiger Richtung dem Charakteristischen zustrebt und nicht
einem durchgehenden Bildungsgesetze gehorcht, eben deshalb zeigt die Ge-
sammterscheinung der modernen Poesie nichts wie die der antiken, einen
allumfassenden, festbestimmten, sich stets gleich bleibenden Charakter. In dem
Buche selbst aber, wo jene beiden Sätze um mehr als dreißig Seiten von
einander getrennt stehen und sorgfältig unter einander vermittelt werden,
-- in dem Buche selbst verschwindet auch jeder Schein des Widerspruchs.
Nachdem Schlegel die Charakterlosigkeit der modernen Poesie proclamirt hat.
ist er sogar vorsichtig genug, limitirend hinzuzusetzen (S. 19): "Es ist ein¬
leuchtend, daß es in strengster und buchstäblicher Bedeutung keine Charakter¬
losigkeit geben kann." --

Indem ich den Auszug mit dem Buche selbst vergleiche, muß ich eines
sehr bezeichnenden Wortes von August Wilhelm gedenken, das auf Friedrich's
schriftstellerische Eigenthümlichkeit ein richtiges Licht wirft. "Das Fragment",
heißt es in dem Briefe an Windischmann, den Böcking den Schlegel'schen
Werken einverleibt hat (8, 291), "das Fragment war ihm schon früh ein
hypostasierter Lieblingsbegriss geworden und ist es immer geblieben. Eine
Jagd aus den Schein des Paradoxen ist unverkennbar.--Wenn er aber


Anmaßung und, bei allem Schein der Tiefe, dasselbe Unvermögen, in den
eigentlichen Kern der Gegenstände zu dringen. Er sah, — was Schlegel
eben befürchtet hatte, — in dem Urheber dieser Sprüche einen beschränkten
Verehrer des Alterthums, der seine engherzige, kurzsichtige Parteilichkeit bis
zum Lächerlichen trieb, der „dem hitzigen Fieber der Gräcomanie" unrettbar
verfallen war. Aus den gewagten Sätzen, die hier in die engste und ge¬
fährlichste Nachbarschaft gebracht waren, schienen die grellsten Widersprüche
hervorzublicken. Wenn Schiller auf S. 399 des Auszuges las:


„Charakterlosigkeit scheint der einzige Charakter der modernen
Poesie. Verwirrung das Gemeinsame ihrer Masse, Gesetzlosigkeit der
Geist ihrer Geschichte und Skepticismus das Resultat ihrer Theorie" —

wenn er diesen umfassenden Urtheilsspruch in Betrachtung zog und dann gleich
hernach (auf S. 379) von dem Autor vernahm, daß „nichts die Künstlichkeit
der modernen ästhetischen Bildung besser erläutern und bestätigen könne, als
das große Uebergewicht des Individuellen, Charakteristischen und Philosoph!-
schen in der ganzen Masse der modernen Poesie", — so wuchsen diese
scheinbar sich widersprechenden Sätze wie von selbst zu dem lustigen Xenion
zusammen:


Völlig charakterlos ist die Poesie der Modernen,
Denn sie verstehen blos charakteristisch zu sein.

Nun begründet es freilich schon an und für sich keinen wirklichen Wider¬
spruch, wenn man sagt: eben weil in der ganzen Masse der modernen Poesie
alles Einzelne in einseitiger Richtung dem Charakteristischen zustrebt und nicht
einem durchgehenden Bildungsgesetze gehorcht, eben deshalb zeigt die Ge-
sammterscheinung der modernen Poesie nichts wie die der antiken, einen
allumfassenden, festbestimmten, sich stets gleich bleibenden Charakter. In dem
Buche selbst aber, wo jene beiden Sätze um mehr als dreißig Seiten von
einander getrennt stehen und sorgfältig unter einander vermittelt werden,
— in dem Buche selbst verschwindet auch jeder Schein des Widerspruchs.
Nachdem Schlegel die Charakterlosigkeit der modernen Poesie proclamirt hat.
ist er sogar vorsichtig genug, limitirend hinzuzusetzen (S. 19): „Es ist ein¬
leuchtend, daß es in strengster und buchstäblicher Bedeutung keine Charakter¬
losigkeit geben kann." —

Indem ich den Auszug mit dem Buche selbst vergleiche, muß ich eines
sehr bezeichnenden Wortes von August Wilhelm gedenken, das auf Friedrich's
schriftstellerische Eigenthümlichkeit ein richtiges Licht wirft. „Das Fragment",
heißt es in dem Briefe an Windischmann, den Böcking den Schlegel'schen
Werken einverleibt hat (8, 291), „das Fragment war ihm schon früh ein
hypostasierter Lieblingsbegriss geworden und ist es immer geblieben. Eine
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/468>, abgerufen am 24.08.2024.