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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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neuste Kritikproben (302)

Nicht viel fehlt dir, ein Meister nach eignen Begriffen zu heißen;
Neben' ich das Einzige aus, daß Du verrückt phantasirst.


Dies Distichon bezieht sich auf eine ungeschickt verletzende Aeußerung in
jenem Aufsatze über den Musen-Almanach, der zufolge Schillers Poesie zwar
an philosophischem Gehalte hochgeschätzte wissenschaftliche Werke übertreffe, und
er selbst als Dichter, Redner, Denker und als kraft- und würdevoller Mensch
Bewunderung verdiene, aber trotzdem die einmal zerrüttete Gesundheit seiner
Einbildungskraft nicht wieder herstellen könne.

Dieser verheißungsvoller Probe allerneuester Kritik schließt sich eine
zweite an:


Lieblich und zart sind deine Gefühle, gebildet dein Ausdruck,
Eins nur labt' ich, du bist frostig von Herzen und matt.

Hier lenken nun die Erklärer unsern Blick von Friedrich Schlegel ab,
und belehren uns, dies Epigramm solle einen namenlosen Kritiker treffen,
einen Mitarbeiter an der Bibliothek der schönen Wissenschaften, der dem
Goethe'schen Gedichte "Der Besuch"*) Kälte und Mattigkeit vorgeworfen habe.
Wir prüfen genauer die kritischen Sätze, die den Unwillen der Dichter erregt
haben sollen; wir finden aber nicht den geringsten Anlaß zu einem strafenden
oder spottenden Epigramm. Der Kritiker rühmt an jenem Gedichte das '
feine zarte Gefühl, den glücklichen Ausdruck, und schließt seinen Lobspruch
auf das "liebliche Gemälde" mit den Worten, in denen Winckelmann die
Grazien im Palast Ruspoli schildert: "Ihre Miene deutet weder auf Fröh¬
lichkeit noch auf Ernst, aber sie ist der Ausdruck einer stillen Zufriedenheit,
dergleichen der jugendlichen Unschuld eigen zu sein Pflegt." -- Wo findet sich
nun hier ein Tadel des Dichters? Wo wird hier der Vorwurf frostiger
Schwäche erhoben oder auch nur von ferne angedeutet? Und diese harmlose,
wohlgesetzte und wohlgemeinte Aeußerung soll den Dichter zu jenem Epigramm
angetrieben haben? Undenkbar! Der löbliche Mitarbeiter an der Bibliothek
der schönen Wissenschaften bleibt unversehrt von diesem Witzespfeil.

Aber gegen wen ward dieser denn gerichtet? Vielleicht erhalten wir
Aufschluß durch das folgende Distichon, dessen Verbindung mit dem vorigen
schon durch den Titel erhellt:


Eine dritte. (N. 304)

Du nur bist mir der würdige Dichter! es kommt dir auf eine
Platitüde nicht an, nur um natürlich zu seyn.



") "Meine Liebste wollt' ich heut veschleichm", im Mus.Alm. für 179" S, 13.

neuste Kritikproben (302)

Nicht viel fehlt dir, ein Meister nach eignen Begriffen zu heißen;
Neben' ich das Einzige aus, daß Du verrückt phantasirst.


Dies Distichon bezieht sich auf eine ungeschickt verletzende Aeußerung in
jenem Aufsatze über den Musen-Almanach, der zufolge Schillers Poesie zwar
an philosophischem Gehalte hochgeschätzte wissenschaftliche Werke übertreffe, und
er selbst als Dichter, Redner, Denker und als kraft- und würdevoller Mensch
Bewunderung verdiene, aber trotzdem die einmal zerrüttete Gesundheit seiner
Einbildungskraft nicht wieder herstellen könne.

Dieser verheißungsvoller Probe allerneuester Kritik schließt sich eine
zweite an:


Lieblich und zart sind deine Gefühle, gebildet dein Ausdruck,
Eins nur labt' ich, du bist frostig von Herzen und matt.

Hier lenken nun die Erklärer unsern Blick von Friedrich Schlegel ab,
und belehren uns, dies Epigramm solle einen namenlosen Kritiker treffen,
einen Mitarbeiter an der Bibliothek der schönen Wissenschaften, der dem
Goethe'schen Gedichte „Der Besuch"*) Kälte und Mattigkeit vorgeworfen habe.
Wir prüfen genauer die kritischen Sätze, die den Unwillen der Dichter erregt
haben sollen; wir finden aber nicht den geringsten Anlaß zu einem strafenden
oder spottenden Epigramm. Der Kritiker rühmt an jenem Gedichte das '
feine zarte Gefühl, den glücklichen Ausdruck, und schließt seinen Lobspruch
auf das „liebliche Gemälde" mit den Worten, in denen Winckelmann die
Grazien im Palast Ruspoli schildert: „Ihre Miene deutet weder auf Fröh¬
lichkeit noch auf Ernst, aber sie ist der Ausdruck einer stillen Zufriedenheit,
dergleichen der jugendlichen Unschuld eigen zu sein Pflegt." — Wo findet sich
nun hier ein Tadel des Dichters? Wo wird hier der Vorwurf frostiger
Schwäche erhoben oder auch nur von ferne angedeutet? Und diese harmlose,
wohlgesetzte und wohlgemeinte Aeußerung soll den Dichter zu jenem Epigramm
angetrieben haben? Undenkbar! Der löbliche Mitarbeiter an der Bibliothek
der schönen Wissenschaften bleibt unversehrt von diesem Witzespfeil.

Aber gegen wen ward dieser denn gerichtet? Vielleicht erhalten wir
Aufschluß durch das folgende Distichon, dessen Verbindung mit dem vorigen
schon durch den Titel erhellt:


Eine dritte. (N. 304)

Du nur bist mir der würdige Dichter! es kommt dir auf eine
Platitüde nicht an, nur um natürlich zu seyn.



") „Meine Liebste wollt' ich heut veschleichm", im Mus.Alm. für 179« S, 13.
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[0416] neuste Kritikproben (302) Nicht viel fehlt dir, ein Meister nach eignen Begriffen zu heißen; Neben' ich das Einzige aus, daß Du verrückt phantasirst. Dies Distichon bezieht sich auf eine ungeschickt verletzende Aeußerung in jenem Aufsatze über den Musen-Almanach, der zufolge Schillers Poesie zwar an philosophischem Gehalte hochgeschätzte wissenschaftliche Werke übertreffe, und er selbst als Dichter, Redner, Denker und als kraft- und würdevoller Mensch Bewunderung verdiene, aber trotzdem die einmal zerrüttete Gesundheit seiner Einbildungskraft nicht wieder herstellen könne. Dieser verheißungsvoller Probe allerneuester Kritik schließt sich eine zweite an: Lieblich und zart sind deine Gefühle, gebildet dein Ausdruck, Eins nur labt' ich, du bist frostig von Herzen und matt. Hier lenken nun die Erklärer unsern Blick von Friedrich Schlegel ab, und belehren uns, dies Epigramm solle einen namenlosen Kritiker treffen, einen Mitarbeiter an der Bibliothek der schönen Wissenschaften, der dem Goethe'schen Gedichte „Der Besuch"*) Kälte und Mattigkeit vorgeworfen habe. Wir prüfen genauer die kritischen Sätze, die den Unwillen der Dichter erregt haben sollen; wir finden aber nicht den geringsten Anlaß zu einem strafenden oder spottenden Epigramm. Der Kritiker rühmt an jenem Gedichte das ' feine zarte Gefühl, den glücklichen Ausdruck, und schließt seinen Lobspruch auf das „liebliche Gemälde" mit den Worten, in denen Winckelmann die Grazien im Palast Ruspoli schildert: „Ihre Miene deutet weder auf Fröh¬ lichkeit noch auf Ernst, aber sie ist der Ausdruck einer stillen Zufriedenheit, dergleichen der jugendlichen Unschuld eigen zu sein Pflegt." — Wo findet sich nun hier ein Tadel des Dichters? Wo wird hier der Vorwurf frostiger Schwäche erhoben oder auch nur von ferne angedeutet? Und diese harmlose, wohlgesetzte und wohlgemeinte Aeußerung soll den Dichter zu jenem Epigramm angetrieben haben? Undenkbar! Der löbliche Mitarbeiter an der Bibliothek der schönen Wissenschaften bleibt unversehrt von diesem Witzespfeil. Aber gegen wen ward dieser denn gerichtet? Vielleicht erhalten wir Aufschluß durch das folgende Distichon, dessen Verbindung mit dem vorigen schon durch den Titel erhellt: Eine dritte. (N. 304) Du nur bist mir der würdige Dichter! es kommt dir auf eine Platitüde nicht an, nur um natürlich zu seyn. ") „Meine Liebste wollt' ich heut veschleichm", im Mus.Alm. für 179« S, 13.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/416>, abgerufen am 22.07.2024.