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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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scheint in eine Krisis treten zu sollen. Lassen Sie mich wenigstens die Ein¬
drücke schildern, die ich von meiner Wanderung zur Wahlzeit empfing. Es
ist unglaublich, wie glühend und allgemein jetzt das Nationalfieber grassirt
und wie verhaßt das gegenwärtige System ist. Die hiesigen Declaranten-
wahlen waren wirklich frappant; der Beneschauer Candidat hatte eine Menge
persönlicher Feinde unter den Wählern -- sie kamen alle und wählten ihn;
in Eule habe ich zwei Krüppel auf Krücken zum Wahltisch schleichen sehen,
dort fehlte von allen Wählern kein einziger; in Beneschau von 149 nur 3.
Es ging Alles in bester Ordnung her, man vermied ausdrücklich Alles, was
einen Schatten von Anfechtbarkeit aus den Actus hätte werfen können. Der
Jubel über die allgemeine Wiederwahl der Declaranten ist unbeschreiblich,
und nicht am geringsten unter den Geistlichen; ich kenne von diesen etwa
30--40, die ich auf den Kirchweihen hinter Prag alle kürzlich gesprochen,
und ich weiß keinen, der nicht seine Freude unverhohlen über dieses Resultat
ausgesprochen; die jüngere Geistlichkeit hat sich sogar stark activ bei der Agi¬
tation betheiligt. So gut orthodox nämlich der Clerus ist, so hat er vor
dem gegenwärtigen Hußschwindel mit seinen kläglichen Aufzügen und Mee¬
tings nicht die geringste Bangigkeit; die Ernstesten schütteln den Kopf, wenn
der Unsinn gar zu blamabel blüht, aber Niemand thut etwas Ernsthaftes
dagegen, sie wissen, daß das jetzt nichts als politische Demonstration ist, und
der Jubel ist allgemein, wenn sich die Regierung nur wieder einmal geärgert
hat. Die Geistlichen wissen aber, daß ihnen diese Comödie viel weniger
schadet, als ihnen der Bund der nationalen Partei gegen die Wiener anti-
concordatlichen Gesetze nützen kann. Dieser läßt sie im geeigneten Falle nicht
im Stiche, wie neulich in Sachen eines gewissen Borovy, der als antihussiti"
scher Forscher das Votum etlicher ultrahussitischer Geschworener wohl fürchten
durfte; als er aber in seiner Vertheidigungsrede sagte: "muß ich wirklich zur
Civilehe rathen, weil sie die Regierung gestattet? Der Staat concessionirt
Findelhäuser, er concessionirt Bordelle, darf ich darum meinen Pfarrkindern
nicht abrathen, sie zu benutzen? Müssen wir wirklich von Allem Gebrauch
machen, was die Regierung concessionirt?" -- das traf, es gab ein lautes
v^bornL und einstimmige Freisprechung. Die äußeren Tumulte sind wirklich
das Wenigste, was der Regierung entgegensteht, die Stimmung auch der
Besonnensten kann nicht verbitterter sein, als sie es ist. Die Leute weisen
es mit Zahlen nach, daß die deutsche Zweidrittel-Majorität im Landtage
(während nach der Seelenzahl nur ein Drittel deutsche Abgeordnete sein
könnte), nur dadurch erreicht ist, daß die Regierung die czechischen Wahlkreise
sehr groß, die deutschen sehr klein gemacht und die gemischten aufs schlaueste
vertheilt hat. Nun handelt freilich in Wahlsachen jede Regierung möglichst
nach ihrem Vortheil und eine czechische würde es muthmaßlich noch pfiffiger


scheint in eine Krisis treten zu sollen. Lassen Sie mich wenigstens die Ein¬
drücke schildern, die ich von meiner Wanderung zur Wahlzeit empfing. Es
ist unglaublich, wie glühend und allgemein jetzt das Nationalfieber grassirt
und wie verhaßt das gegenwärtige System ist. Die hiesigen Declaranten-
wahlen waren wirklich frappant; der Beneschauer Candidat hatte eine Menge
persönlicher Feinde unter den Wählern — sie kamen alle und wählten ihn;
in Eule habe ich zwei Krüppel auf Krücken zum Wahltisch schleichen sehen,
dort fehlte von allen Wählern kein einziger; in Beneschau von 149 nur 3.
Es ging Alles in bester Ordnung her, man vermied ausdrücklich Alles, was
einen Schatten von Anfechtbarkeit aus den Actus hätte werfen können. Der
Jubel über die allgemeine Wiederwahl der Declaranten ist unbeschreiblich,
und nicht am geringsten unter den Geistlichen; ich kenne von diesen etwa
30—40, die ich auf den Kirchweihen hinter Prag alle kürzlich gesprochen,
und ich weiß keinen, der nicht seine Freude unverhohlen über dieses Resultat
ausgesprochen; die jüngere Geistlichkeit hat sich sogar stark activ bei der Agi¬
tation betheiligt. So gut orthodox nämlich der Clerus ist, so hat er vor
dem gegenwärtigen Hußschwindel mit seinen kläglichen Aufzügen und Mee¬
tings nicht die geringste Bangigkeit; die Ernstesten schütteln den Kopf, wenn
der Unsinn gar zu blamabel blüht, aber Niemand thut etwas Ernsthaftes
dagegen, sie wissen, daß das jetzt nichts als politische Demonstration ist, und
der Jubel ist allgemein, wenn sich die Regierung nur wieder einmal geärgert
hat. Die Geistlichen wissen aber, daß ihnen diese Comödie viel weniger
schadet, als ihnen der Bund der nationalen Partei gegen die Wiener anti-
concordatlichen Gesetze nützen kann. Dieser läßt sie im geeigneten Falle nicht
im Stiche, wie neulich in Sachen eines gewissen Borovy, der als antihussiti«
scher Forscher das Votum etlicher ultrahussitischer Geschworener wohl fürchten
durfte; als er aber in seiner Vertheidigungsrede sagte: „muß ich wirklich zur
Civilehe rathen, weil sie die Regierung gestattet? Der Staat concessionirt
Findelhäuser, er concessionirt Bordelle, darf ich darum meinen Pfarrkindern
nicht abrathen, sie zu benutzen? Müssen wir wirklich von Allem Gebrauch
machen, was die Regierung concessionirt?" — das traf, es gab ein lautes
v^bornL und einstimmige Freisprechung. Die äußeren Tumulte sind wirklich
das Wenigste, was der Regierung entgegensteht, die Stimmung auch der
Besonnensten kann nicht verbitterter sein, als sie es ist. Die Leute weisen
es mit Zahlen nach, daß die deutsche Zweidrittel-Majorität im Landtage
(während nach der Seelenzahl nur ein Drittel deutsche Abgeordnete sein
könnte), nur dadurch erreicht ist, daß die Regierung die czechischen Wahlkreise
sehr groß, die deutschen sehr klein gemacht und die gemischten aufs schlaueste
vertheilt hat. Nun handelt freilich in Wahlsachen jede Regierung möglichst
nach ihrem Vortheil und eine czechische würde es muthmaßlich noch pfiffiger


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[0124] scheint in eine Krisis treten zu sollen. Lassen Sie mich wenigstens die Ein¬ drücke schildern, die ich von meiner Wanderung zur Wahlzeit empfing. Es ist unglaublich, wie glühend und allgemein jetzt das Nationalfieber grassirt und wie verhaßt das gegenwärtige System ist. Die hiesigen Declaranten- wahlen waren wirklich frappant; der Beneschauer Candidat hatte eine Menge persönlicher Feinde unter den Wählern — sie kamen alle und wählten ihn; in Eule habe ich zwei Krüppel auf Krücken zum Wahltisch schleichen sehen, dort fehlte von allen Wählern kein einziger; in Beneschau von 149 nur 3. Es ging Alles in bester Ordnung her, man vermied ausdrücklich Alles, was einen Schatten von Anfechtbarkeit aus den Actus hätte werfen können. Der Jubel über die allgemeine Wiederwahl der Declaranten ist unbeschreiblich, und nicht am geringsten unter den Geistlichen; ich kenne von diesen etwa 30—40, die ich auf den Kirchweihen hinter Prag alle kürzlich gesprochen, und ich weiß keinen, der nicht seine Freude unverhohlen über dieses Resultat ausgesprochen; die jüngere Geistlichkeit hat sich sogar stark activ bei der Agi¬ tation betheiligt. So gut orthodox nämlich der Clerus ist, so hat er vor dem gegenwärtigen Hußschwindel mit seinen kläglichen Aufzügen und Mee¬ tings nicht die geringste Bangigkeit; die Ernstesten schütteln den Kopf, wenn der Unsinn gar zu blamabel blüht, aber Niemand thut etwas Ernsthaftes dagegen, sie wissen, daß das jetzt nichts als politische Demonstration ist, und der Jubel ist allgemein, wenn sich die Regierung nur wieder einmal geärgert hat. Die Geistlichen wissen aber, daß ihnen diese Comödie viel weniger schadet, als ihnen der Bund der nationalen Partei gegen die Wiener anti- concordatlichen Gesetze nützen kann. Dieser läßt sie im geeigneten Falle nicht im Stiche, wie neulich in Sachen eines gewissen Borovy, der als antihussiti« scher Forscher das Votum etlicher ultrahussitischer Geschworener wohl fürchten durfte; als er aber in seiner Vertheidigungsrede sagte: „muß ich wirklich zur Civilehe rathen, weil sie die Regierung gestattet? Der Staat concessionirt Findelhäuser, er concessionirt Bordelle, darf ich darum meinen Pfarrkindern nicht abrathen, sie zu benutzen? Müssen wir wirklich von Allem Gebrauch machen, was die Regierung concessionirt?" — das traf, es gab ein lautes v^bornL und einstimmige Freisprechung. Die äußeren Tumulte sind wirklich das Wenigste, was der Regierung entgegensteht, die Stimmung auch der Besonnensten kann nicht verbitterter sein, als sie es ist. Die Leute weisen es mit Zahlen nach, daß die deutsche Zweidrittel-Majorität im Landtage (während nach der Seelenzahl nur ein Drittel deutsche Abgeordnete sein könnte), nur dadurch erreicht ist, daß die Regierung die czechischen Wahlkreise sehr groß, die deutschen sehr klein gemacht und die gemischten aufs schlaueste vertheilt hat. Nun handelt freilich in Wahlsachen jede Regierung möglichst nach ihrem Vortheil und eine czechische würde es muthmaßlich noch pfiffiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/124>, abgerufen am 22.07.2024.