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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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mit einander vergleichen und ihre Urformen wiederherstellen will, man nicht
mehr von mehr oder weniger subjectiven und willkürlichen Ansichten über alter¬
thümliche Züge in dem einen und dem modernisirten Aufputz in dem anderen
ausgehe, sondern auf literarischem Wege zu ermitteln suche, wann dieses oder
jenes Märchen sich zuerst bei dem betreffenden Volke nachweisen lasse, und ob
dasselbe nicht von einem anderen, bei dem es früher nachweisbar vorkomme,
entlehnt sei.

Dieses methodologisch so wichtige Ergebniß der Forschungen Benfeys ist
aber nur unter einer Voraussetzung von ganz durchgreifender Bedeutung für
die Märchenpoesie anwendbar, unter der nämlich, daß sich alle Märchen aus
Indien über den größten Theil der alten Welt verbreitet haben. Ist das nicht
richtig, müssen wir vielmehr mit einer ganzen Anzahl der tüchtigsten Kenner
der Märchen-Literatur und -Poesie, wie F. Liebrecht, Hahn u. A. annehmen,
daß, abgesehen von jenen vielen durch literarische Vermittelung nach Eu¬
ropa verbreiteten z> B. indischen Märchen, es noch andere gebe, die über die
ganze Erde verbreitet, aus Urmythen geflossen sind (vergl. Liebrecht, in Ebert-
Lemikoü Jahrbuch Bd. III. S. 79), und ist es ferner auch nicht abzusehen,
warum nicht jedes Volk, das überhaupt zu mythologischen und poetischen
Hervorbringungen fähig ist, eigene Märchen selbständig producirt haben soll,
so verschwindet allerdings wieder ein gutes Theil der Resultate der Benfey'-
schen Untersuchungen uns unter den Händen.

Ja in einer Beziehung scheint die Verwirrung nur noch größer zu wer¬
den und die Lösung derselben ganz unmöglich. Hat es z. B. in Deutschland
schon Märchen gegeben, ehe die durch persische, arabische, lateinische und
deutsche Uebersetzungen vermittelten indischen Märchenstoffe hier herkamen, so
waren dieselben entweder in Deutschland, oder richtiger gesagt innerhalb der
germanischen Völkerstämme nach ihrer Trennung von den anderen arischen
Nationen entstanden, oder ein mehr oder weniger gemeinsames Erbstück der
indogermanischen Völkerfamilie überhaupt. In diesem letzteren Falle aber
könnte es sich doch sehr leicht treffen, daß das Märchen, das aus neueren
indischen Quellen durch jene Uebersetzungen vermittelt nach Deutschland kam,
dort schon längst, wenn auch nur nationalisirt und damit modificirt, vor¬
handen war, und beide Erzählungen sich jetzt wieder zu einer vereinigten.
Die ungemeine Verbreitung der nachweisbar in letzter Instanz indischen
Märchenbücher macht es gerade zu höchst wahrscheinlich, daß dieses gar
häufig der Fall war. Denn unter dem Volke verbreitet sich nur das rasch und
leicht, was ihm schon nicht ganz fremd und ungewohnt ist, für das seine
Seele durch Erfahrung disponirt ist. Nehmen wir aber das an und neigen
zu der Ansicht hin, daß die deutschen Volksmärchen im Allgemeinen aus
einer doppelten Quelle entstanden seien, aus Mythen und mythenartigen Er-


mit einander vergleichen und ihre Urformen wiederherstellen will, man nicht
mehr von mehr oder weniger subjectiven und willkürlichen Ansichten über alter¬
thümliche Züge in dem einen und dem modernisirten Aufputz in dem anderen
ausgehe, sondern auf literarischem Wege zu ermitteln suche, wann dieses oder
jenes Märchen sich zuerst bei dem betreffenden Volke nachweisen lasse, und ob
dasselbe nicht von einem anderen, bei dem es früher nachweisbar vorkomme,
entlehnt sei.

Dieses methodologisch so wichtige Ergebniß der Forschungen Benfeys ist
aber nur unter einer Voraussetzung von ganz durchgreifender Bedeutung für
die Märchenpoesie anwendbar, unter der nämlich, daß sich alle Märchen aus
Indien über den größten Theil der alten Welt verbreitet haben. Ist das nicht
richtig, müssen wir vielmehr mit einer ganzen Anzahl der tüchtigsten Kenner
der Märchen-Literatur und -Poesie, wie F. Liebrecht, Hahn u. A. annehmen,
daß, abgesehen von jenen vielen durch literarische Vermittelung nach Eu¬
ropa verbreiteten z> B. indischen Märchen, es noch andere gebe, die über die
ganze Erde verbreitet, aus Urmythen geflossen sind (vergl. Liebrecht, in Ebert-
Lemikoü Jahrbuch Bd. III. S. 79), und ist es ferner auch nicht abzusehen,
warum nicht jedes Volk, das überhaupt zu mythologischen und poetischen
Hervorbringungen fähig ist, eigene Märchen selbständig producirt haben soll,
so verschwindet allerdings wieder ein gutes Theil der Resultate der Benfey'-
schen Untersuchungen uns unter den Händen.

Ja in einer Beziehung scheint die Verwirrung nur noch größer zu wer¬
den und die Lösung derselben ganz unmöglich. Hat es z. B. in Deutschland
schon Märchen gegeben, ehe die durch persische, arabische, lateinische und
deutsche Uebersetzungen vermittelten indischen Märchenstoffe hier herkamen, so
waren dieselben entweder in Deutschland, oder richtiger gesagt innerhalb der
germanischen Völkerstämme nach ihrer Trennung von den anderen arischen
Nationen entstanden, oder ein mehr oder weniger gemeinsames Erbstück der
indogermanischen Völkerfamilie überhaupt. In diesem letzteren Falle aber
könnte es sich doch sehr leicht treffen, daß das Märchen, das aus neueren
indischen Quellen durch jene Uebersetzungen vermittelt nach Deutschland kam,
dort schon längst, wenn auch nur nationalisirt und damit modificirt, vor¬
handen war, und beide Erzählungen sich jetzt wieder zu einer vereinigten.
Die ungemeine Verbreitung der nachweisbar in letzter Instanz indischen
Märchenbücher macht es gerade zu höchst wahrscheinlich, daß dieses gar
häufig der Fall war. Denn unter dem Volke verbreitet sich nur das rasch und
leicht, was ihm schon nicht ganz fremd und ungewohnt ist, für das seine
Seele durch Erfahrung disponirt ist. Nehmen wir aber das an und neigen
zu der Ansicht hin, daß die deutschen Volksmärchen im Allgemeinen aus
einer doppelten Quelle entstanden seien, aus Mythen und mythenartigen Er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/112>, abgerufen am 22.07.2024.