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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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sich damit selbst zum Richter in eigener Sache, und wenn, um das Ge¬
hässigste von dieser Position abzuwehren, zugleich mit dürftigen Mitteln eine
Ketzerklage angestrengt wurde, so blieben die Orthodoxen den Nachweis
schuldig, welches die rechtsgiltigen dogmatischen Normen der reformirten
Kirche seien, gegen welche Coquerel sich verfehlt habe. Er maßte sich eine
dogmatische Autorität an, die nach dem Gesetz nicht den Consistorien, sondern
der factisch nicht bestehenden Synode zukommt. Er constituirte sich als
Glaubensgericht in der Absicht, alle Pfarrer zu entfernen, die nicht zur Ortho¬
doxie, d. h. vielmehr nicht zu der im Consistorium zur Zeit dominirenden
Meinung gehörten. Es war also eine Maßregel der Intoleranz, im Geist
des Katholicismus, nicht des Protestantismus, widersprechend dem Herkommen
und Geist der französischen Kirche, und eine Maßregel höchster Unbilligkeit
gegen ein volles Drittel der Kirche von Paris, das des Predigers seiner
Wahl beraubt werden sollte.

Am 26. Februar war das Urtheil gesprochen worden. Am 29. war es
Coquerel noch vergönnt, sich auf der Kanzel von seiner Gemeinde zu ver¬
abschieden. Noch einmal rissen seine bewegten Abschiedsworte die dichtgedrängte
Zuhörerschaft hin. Unmittelbar darauf begann eine Agitation in der Ge¬
meinde, um gegen den Spruch des Presbytenalraths zu Protestiren. In
wenigen Tagen wurde eine Adresse um Wiedereinsetzung Coquerels mit
5000 Unterschriften bedeckt. Von allen Seiten erhielt er Beweise von An¬
hänglichkeit und Sympathie, Zuschriften kamen aus allen Theilen Frankreichs,
von Einzelnen, von Presbyterialräthen, von Consistorien, auch aus der
Schweiz, aus Holland, aus England und Amerika stellten sich die
Zeugnisse verwandter Gesinnung ein. Der Presbyterialrath sah sich
genöthigt, die Acten des Processes der Oeffentlichkeit vorzulegen, worauf so¬
fort eine Antwort der protestantischen Union erfolgte. In der Presse wogte
ein erbitterter Kampf zwischen beiden Richtungen, Broschüren flogen hinüber
und herüber.

Mitten unter dieser Aufregung der Geister, die an sich der Sache der
Orthodoxie wenig förderlich wär, traten im April zu Paris, im Juni zu
Nimes die Pastoralconferenzen zusammen, freie Vereinigungen zur Besprechung
kirchlicher Angelegenheiten, wie sie alljährlich im Frühjahr stattzufinden
pflegten. Ihre Beschlüsse sind nichts als ein motivirter Meinungsausdruck;
aber ohne daß ihnen irgend welche gesetzliche Befugnisse Zuständen, waren sie
doch bis dahin das einzige sichtbare Band, welches die reformirte Kirche Frank¬
reichs vereinigte, und gewissermaßen ein Ersatz für die Synode, ohne die Auto¬
rität der Synode, ein getreuer Spiegel der augenblicklich vorherrschenden, aus
gemeinsamer Tribüne sich messenden Richtungen. Beiden Conferenzen sah man
in diesem Jahre mit ungewöhnlicher Spannung entgegen, und beide waren


sich damit selbst zum Richter in eigener Sache, und wenn, um das Ge¬
hässigste von dieser Position abzuwehren, zugleich mit dürftigen Mitteln eine
Ketzerklage angestrengt wurde, so blieben die Orthodoxen den Nachweis
schuldig, welches die rechtsgiltigen dogmatischen Normen der reformirten
Kirche seien, gegen welche Coquerel sich verfehlt habe. Er maßte sich eine
dogmatische Autorität an, die nach dem Gesetz nicht den Consistorien, sondern
der factisch nicht bestehenden Synode zukommt. Er constituirte sich als
Glaubensgericht in der Absicht, alle Pfarrer zu entfernen, die nicht zur Ortho¬
doxie, d. h. vielmehr nicht zu der im Consistorium zur Zeit dominirenden
Meinung gehörten. Es war also eine Maßregel der Intoleranz, im Geist
des Katholicismus, nicht des Protestantismus, widersprechend dem Herkommen
und Geist der französischen Kirche, und eine Maßregel höchster Unbilligkeit
gegen ein volles Drittel der Kirche von Paris, das des Predigers seiner
Wahl beraubt werden sollte.

Am 26. Februar war das Urtheil gesprochen worden. Am 29. war es
Coquerel noch vergönnt, sich auf der Kanzel von seiner Gemeinde zu ver¬
abschieden. Noch einmal rissen seine bewegten Abschiedsworte die dichtgedrängte
Zuhörerschaft hin. Unmittelbar darauf begann eine Agitation in der Ge¬
meinde, um gegen den Spruch des Presbytenalraths zu Protestiren. In
wenigen Tagen wurde eine Adresse um Wiedereinsetzung Coquerels mit
5000 Unterschriften bedeckt. Von allen Seiten erhielt er Beweise von An¬
hänglichkeit und Sympathie, Zuschriften kamen aus allen Theilen Frankreichs,
von Einzelnen, von Presbyterialräthen, von Consistorien, auch aus der
Schweiz, aus Holland, aus England und Amerika stellten sich die
Zeugnisse verwandter Gesinnung ein. Der Presbyterialrath sah sich
genöthigt, die Acten des Processes der Oeffentlichkeit vorzulegen, worauf so¬
fort eine Antwort der protestantischen Union erfolgte. In der Presse wogte
ein erbitterter Kampf zwischen beiden Richtungen, Broschüren flogen hinüber
und herüber.

Mitten unter dieser Aufregung der Geister, die an sich der Sache der
Orthodoxie wenig förderlich wär, traten im April zu Paris, im Juni zu
Nimes die Pastoralconferenzen zusammen, freie Vereinigungen zur Besprechung
kirchlicher Angelegenheiten, wie sie alljährlich im Frühjahr stattzufinden
pflegten. Ihre Beschlüsse sind nichts als ein motivirter Meinungsausdruck;
aber ohne daß ihnen irgend welche gesetzliche Befugnisse Zuständen, waren sie
doch bis dahin das einzige sichtbare Band, welches die reformirte Kirche Frank¬
reichs vereinigte, und gewissermaßen ein Ersatz für die Synode, ohne die Auto¬
rität der Synode, ein getreuer Spiegel der augenblicklich vorherrschenden, aus
gemeinsamer Tribüne sich messenden Richtungen. Beiden Conferenzen sah man
in diesem Jahre mit ungewöhnlicher Spannung entgegen, und beide waren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/98>, abgerufen am 29.09.2024.