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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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häufiger und immer länger; nach dem Tode seiner Frau, im Jahre 1849,
verschloß er sich einige Zeit jedem Umgange, stumm seinem Schmerze hin¬
gegeben: kein Wunder, daß das große Wandgemälde unvollendet blieb. Das
Gegenstück, das eiserne Zeitalter, war nicht einmal begonnen. Hippolyte
Flandrin, dem die Vollendung der Bilder angeboten ward, nahm es nicht an
und so blieb Ingres Composition -- Gruppen von nackten Männern, Frauen
und Kindern, unter ihnen weilend Asträa -- halbfertig bis zur heutigen
Stunde; sie ist großartig, edel und stilvoll wie Alles von dem ernsten hoch¬
strebenden Meister, aber die Theile des Bildes fallen allerdings auseinander,
und die Gesichter leiden sämmtlich an einer störenden Monotonie des Typus
und des Ausdrucks. Die ganze Wand ist jetzt mit einem Vorhange bedeckt.
Davor steht die Athene, das Hauptstück der Sammlung.

Es war stets eine Lieblingsidee der Archäologen, die verlorene Technik
der Goldelsenbeinsculptur wieder zu entdecken und die Restitution der Meister¬
werke eines Phydias und Polyklet zu versuchen. Dieser Wunsch scheiterte
meist an der Spärlichkeit der Notizen über diesen Zweig der Kunst, außer¬
dem aber an der Kostspieligkeit des- Unternehmens. Um eine solche Restau¬
ration zu wagen, waren nicht nur die Kunstliebe und die archäologische Bil¬
dung des Duc de Luynes, sondern auch sein Vermögen nothwendig. Im
Jahre 1834 gab er dem Bildhauer Simart den Auftrag, seine Entwürfe
auszuführen; die Statue war 1865 auf der Ausstellung, aber ungünstig be¬
leuchtet scheint sie ihre Wirkung gänzlich verfehlt zu haben; sie gab Anlaß
zu vielen lebhaften Discussionen, vielfach unberechtigt sind die gegen sie ge¬
richteten Vorwürfe.

In langem, bis an die Füße reichenden Gewände steht die Zeustochter
da, den Fuß wenig vorhaltend: eine Bewegung, durch welche, wie bei den
attischen Karyatiden, die schönste Faltengebung entsteht. An ihrer rechten
Seite erhebt sich in schrecklichen Ringen die Burgschlange; die rechte Hand
der Göttin hält die palmentragende Nike, die linke die Lanze; der Schild
steht daneben angelehnt. Athene ist mit Helm und Aegis gerüstet. Die
nackten Theile der Statue sind aus Elfenbein; die Augen, Halsband und
Ohrgehänge aus Edelstein; Mund und Augenlider roth gefärbt. Das Kleid
ist aus vergoldetem Silber; Helm, Aegis und Schild von Gold, die Schlange
endlich von Bronze. Das Ganze ist über 8 Fuß hoch. Die Frage nun, ob
wir wirklich die Athene Parthenos des Phidias vor uns haben, müssen wir
entschieden verneinen; es lassen sich aber viele Umstände anführen, die es unmög¬
lich machen, dem Bildhauer und seinem Gönner einen Vorwurf daraus zu
machen. Die Nachrichten, die wir bei den alten Schriftstellern über die
Schöpfung des attischen Meisters finden, sind so spärlich und so unbestimmt,
daß sie durchaus kein anschauliches Bild bieten; erst seit wenigen Jahren


häufiger und immer länger; nach dem Tode seiner Frau, im Jahre 1849,
verschloß er sich einige Zeit jedem Umgange, stumm seinem Schmerze hin¬
gegeben: kein Wunder, daß das große Wandgemälde unvollendet blieb. Das
Gegenstück, das eiserne Zeitalter, war nicht einmal begonnen. Hippolyte
Flandrin, dem die Vollendung der Bilder angeboten ward, nahm es nicht an
und so blieb Ingres Composition — Gruppen von nackten Männern, Frauen
und Kindern, unter ihnen weilend Asträa — halbfertig bis zur heutigen
Stunde; sie ist großartig, edel und stilvoll wie Alles von dem ernsten hoch¬
strebenden Meister, aber die Theile des Bildes fallen allerdings auseinander,
und die Gesichter leiden sämmtlich an einer störenden Monotonie des Typus
und des Ausdrucks. Die ganze Wand ist jetzt mit einem Vorhange bedeckt.
Davor steht die Athene, das Hauptstück der Sammlung.

Es war stets eine Lieblingsidee der Archäologen, die verlorene Technik
der Goldelsenbeinsculptur wieder zu entdecken und die Restitution der Meister¬
werke eines Phydias und Polyklet zu versuchen. Dieser Wunsch scheiterte
meist an der Spärlichkeit der Notizen über diesen Zweig der Kunst, außer¬
dem aber an der Kostspieligkeit des- Unternehmens. Um eine solche Restau¬
ration zu wagen, waren nicht nur die Kunstliebe und die archäologische Bil¬
dung des Duc de Luynes, sondern auch sein Vermögen nothwendig. Im
Jahre 1834 gab er dem Bildhauer Simart den Auftrag, seine Entwürfe
auszuführen; die Statue war 1865 auf der Ausstellung, aber ungünstig be¬
leuchtet scheint sie ihre Wirkung gänzlich verfehlt zu haben; sie gab Anlaß
zu vielen lebhaften Discussionen, vielfach unberechtigt sind die gegen sie ge¬
richteten Vorwürfe.

In langem, bis an die Füße reichenden Gewände steht die Zeustochter
da, den Fuß wenig vorhaltend: eine Bewegung, durch welche, wie bei den
attischen Karyatiden, die schönste Faltengebung entsteht. An ihrer rechten
Seite erhebt sich in schrecklichen Ringen die Burgschlange; die rechte Hand
der Göttin hält die palmentragende Nike, die linke die Lanze; der Schild
steht daneben angelehnt. Athene ist mit Helm und Aegis gerüstet. Die
nackten Theile der Statue sind aus Elfenbein; die Augen, Halsband und
Ohrgehänge aus Edelstein; Mund und Augenlider roth gefärbt. Das Kleid
ist aus vergoldetem Silber; Helm, Aegis und Schild von Gold, die Schlange
endlich von Bronze. Das Ganze ist über 8 Fuß hoch. Die Frage nun, ob
wir wirklich die Athene Parthenos des Phidias vor uns haben, müssen wir
entschieden verneinen; es lassen sich aber viele Umstände anführen, die es unmög¬
lich machen, dem Bildhauer und seinem Gönner einen Vorwurf daraus zu
machen. Die Nachrichten, die wir bei den alten Schriftstellern über die
Schöpfung des attischen Meisters finden, sind so spärlich und so unbestimmt,
daß sie durchaus kein anschauliches Bild bieten; erst seit wenigen Jahren


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[0466] häufiger und immer länger; nach dem Tode seiner Frau, im Jahre 1849, verschloß er sich einige Zeit jedem Umgange, stumm seinem Schmerze hin¬ gegeben: kein Wunder, daß das große Wandgemälde unvollendet blieb. Das Gegenstück, das eiserne Zeitalter, war nicht einmal begonnen. Hippolyte Flandrin, dem die Vollendung der Bilder angeboten ward, nahm es nicht an und so blieb Ingres Composition — Gruppen von nackten Männern, Frauen und Kindern, unter ihnen weilend Asträa — halbfertig bis zur heutigen Stunde; sie ist großartig, edel und stilvoll wie Alles von dem ernsten hoch¬ strebenden Meister, aber die Theile des Bildes fallen allerdings auseinander, und die Gesichter leiden sämmtlich an einer störenden Monotonie des Typus und des Ausdrucks. Die ganze Wand ist jetzt mit einem Vorhange bedeckt. Davor steht die Athene, das Hauptstück der Sammlung. Es war stets eine Lieblingsidee der Archäologen, die verlorene Technik der Goldelsenbeinsculptur wieder zu entdecken und die Restitution der Meister¬ werke eines Phydias und Polyklet zu versuchen. Dieser Wunsch scheiterte meist an der Spärlichkeit der Notizen über diesen Zweig der Kunst, außer¬ dem aber an der Kostspieligkeit des- Unternehmens. Um eine solche Restau¬ ration zu wagen, waren nicht nur die Kunstliebe und die archäologische Bil¬ dung des Duc de Luynes, sondern auch sein Vermögen nothwendig. Im Jahre 1834 gab er dem Bildhauer Simart den Auftrag, seine Entwürfe auszuführen; die Statue war 1865 auf der Ausstellung, aber ungünstig be¬ leuchtet scheint sie ihre Wirkung gänzlich verfehlt zu haben; sie gab Anlaß zu vielen lebhaften Discussionen, vielfach unberechtigt sind die gegen sie ge¬ richteten Vorwürfe. In langem, bis an die Füße reichenden Gewände steht die Zeustochter da, den Fuß wenig vorhaltend: eine Bewegung, durch welche, wie bei den attischen Karyatiden, die schönste Faltengebung entsteht. An ihrer rechten Seite erhebt sich in schrecklichen Ringen die Burgschlange; die rechte Hand der Göttin hält die palmentragende Nike, die linke die Lanze; der Schild steht daneben angelehnt. Athene ist mit Helm und Aegis gerüstet. Die nackten Theile der Statue sind aus Elfenbein; die Augen, Halsband und Ohrgehänge aus Edelstein; Mund und Augenlider roth gefärbt. Das Kleid ist aus vergoldetem Silber; Helm, Aegis und Schild von Gold, die Schlange endlich von Bronze. Das Ganze ist über 8 Fuß hoch. Die Frage nun, ob wir wirklich die Athene Parthenos des Phidias vor uns haben, müssen wir entschieden verneinen; es lassen sich aber viele Umstände anführen, die es unmög¬ lich machen, dem Bildhauer und seinem Gönner einen Vorwurf daraus zu machen. Die Nachrichten, die wir bei den alten Schriftstellern über die Schöpfung des attischen Meisters finden, sind so spärlich und so unbestimmt, daß sie durchaus kein anschauliches Bild bieten; erst seit wenigen Jahren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/466>, abgerufen am 05.02.2025.