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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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hat. wird im Grunde von Renan nur beiläufig erwähnt, weil es doch nicht
verschwiegen werden kann: "Er hat die enge und wunderbar gefährliche
Windel zerrissen, mit der das Kind seit seiner Geburt umgeben war, er hat
verkündet, daß das Christenthum keine einfache Form des Judenthums, son¬
dern eine vollständige, durch sich selbst bestimmte Religion sei." Diese Worte
sagen Alles. In ihnen liegt das geschichtliche Urtheil über den Heidenapostel,
nicht aber in der müßigen Frage, ob Paulus größer als Jesus oder kleiner
als Franz von Assise gewesen sei.

Man hat allen Grund, anzunehmen, daß Jesus grade so universalistisch
dachte als Paulus, und sein Evangelium für alle Welt ohne Unterschied der
Nationalität bestimmte. Aber ausgesprochen war es noch nicht, oder wenn
es als Grundsatz ausgesprochen war, so hatte es sich an der Wirklichkeit noch
nicht gemessen; es war eine unvermeidliche Consequenz, aber sie war noch nicht
gezogen. Jesus selbst, der ausschließlich unter Juden lebte, hatte die Ver¬
anlassung gar nicht, seiner Lehre die polemische Spitze gegen die Exclusivität
dieses einzelnen Volksstammes zu geben. Aber die Polemik, der Kampf
konnte nicht ausbleiben, wenn die Lehre Jesu eine weltgeschichtliche Bedeu¬
tung haben sollte. Diese Polemik aufgenommen und durchgeführt zu haben,
ist der Dienst, den Paulus der Lehre Jesu geleistet hat. Und zwar mußte er
den Kampf aufnehmen gegen die unmittelbaren Schüler Jesu selbst, die Renan
gleichfalls über Paulus locirt, weil sie "Jesu Wort gehört und die göttlichen
Logia und Parabeln aus dem eigenen Munde des Meisters vernommen."
Was das Christenthum unter der Leitung dieser bevorzugten Apostel war,
als der unabhängige Geist des Paulus in die Bewegung eintrat, und was
jene älteren Apostel aus dem Christenthum dem Paulus zum Trotz machen
wollten, dafür liegen die geschichtlichen Zeugnisse vor. Es war eine jüdische
Secte und es wollte nichts Anderes sein, bis die Energie des Paulus und
die thatsächlichen Erfolge seiner Heidenmission den Standpunkt der Jünger
Jesu unhaltbar machten. Die Idylle am See Tiberias, die Renan mit so
schwärmerischer Begeisterung feiert, hat thatsächlich nicht dazu genügt, die von
Jesus ausgesprochenen Ideen zu einem weltgeschichtlichen Princip zu erheben.
Soll eine neue Welt geschaffen werden, so bedarf es nicht blos solcher, "die
das Ideal anbeten", sondern auch solcher, die den Muth haben, es in die.
Wirklichkeit zu tragen und den Widerstand herauszufordern. Dann verwan¬
delt sich die Idylle freilich in Kampf und Streit, der Duft des Ideals ist
abgestreift, aber wenn das Christenthum des Paulus mit seiner dogmatischen
Begründung in gewissem Sinne bereits eine Entstellung des ursprünglichen
Christenthums ist, so ist es doch zugleich die Form gewesen, in welcher das
Christenthum weltgeschichtlich fruchtbar geworden ist und die heidnische Welt durch¬
drungen hat. Ein Aehnliches hat sich in der deutschen Reformation wieder-


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hat. wird im Grunde von Renan nur beiläufig erwähnt, weil es doch nicht
verschwiegen werden kann: „Er hat die enge und wunderbar gefährliche
Windel zerrissen, mit der das Kind seit seiner Geburt umgeben war, er hat
verkündet, daß das Christenthum keine einfache Form des Judenthums, son¬
dern eine vollständige, durch sich selbst bestimmte Religion sei." Diese Worte
sagen Alles. In ihnen liegt das geschichtliche Urtheil über den Heidenapostel,
nicht aber in der müßigen Frage, ob Paulus größer als Jesus oder kleiner
als Franz von Assise gewesen sei.

Man hat allen Grund, anzunehmen, daß Jesus grade so universalistisch
dachte als Paulus, und sein Evangelium für alle Welt ohne Unterschied der
Nationalität bestimmte. Aber ausgesprochen war es noch nicht, oder wenn
es als Grundsatz ausgesprochen war, so hatte es sich an der Wirklichkeit noch
nicht gemessen; es war eine unvermeidliche Consequenz, aber sie war noch nicht
gezogen. Jesus selbst, der ausschließlich unter Juden lebte, hatte die Ver¬
anlassung gar nicht, seiner Lehre die polemische Spitze gegen die Exclusivität
dieses einzelnen Volksstammes zu geben. Aber die Polemik, der Kampf
konnte nicht ausbleiben, wenn die Lehre Jesu eine weltgeschichtliche Bedeu¬
tung haben sollte. Diese Polemik aufgenommen und durchgeführt zu haben,
ist der Dienst, den Paulus der Lehre Jesu geleistet hat. Und zwar mußte er
den Kampf aufnehmen gegen die unmittelbaren Schüler Jesu selbst, die Renan
gleichfalls über Paulus locirt, weil sie „Jesu Wort gehört und die göttlichen
Logia und Parabeln aus dem eigenen Munde des Meisters vernommen."
Was das Christenthum unter der Leitung dieser bevorzugten Apostel war,
als der unabhängige Geist des Paulus in die Bewegung eintrat, und was
jene älteren Apostel aus dem Christenthum dem Paulus zum Trotz machen
wollten, dafür liegen die geschichtlichen Zeugnisse vor. Es war eine jüdische
Secte und es wollte nichts Anderes sein, bis die Energie des Paulus und
die thatsächlichen Erfolge seiner Heidenmission den Standpunkt der Jünger
Jesu unhaltbar machten. Die Idylle am See Tiberias, die Renan mit so
schwärmerischer Begeisterung feiert, hat thatsächlich nicht dazu genügt, die von
Jesus ausgesprochenen Ideen zu einem weltgeschichtlichen Princip zu erheben.
Soll eine neue Welt geschaffen werden, so bedarf es nicht blos solcher, „die
das Ideal anbeten", sondern auch solcher, die den Muth haben, es in die.
Wirklichkeit zu tragen und den Widerstand herauszufordern. Dann verwan¬
delt sich die Idylle freilich in Kampf und Streit, der Duft des Ideals ist
abgestreift, aber wenn das Christenthum des Paulus mit seiner dogmatischen
Begründung in gewissem Sinne bereits eine Entstellung des ursprünglichen
Christenthums ist, so ist es doch zugleich die Form gewesen, in welcher das
Christenthum weltgeschichtlich fruchtbar geworden ist und die heidnische Welt durch¬
drungen hat. Ein Aehnliches hat sich in der deutschen Reformation wieder-


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[0459] hat. wird im Grunde von Renan nur beiläufig erwähnt, weil es doch nicht verschwiegen werden kann: „Er hat die enge und wunderbar gefährliche Windel zerrissen, mit der das Kind seit seiner Geburt umgeben war, er hat verkündet, daß das Christenthum keine einfache Form des Judenthums, son¬ dern eine vollständige, durch sich selbst bestimmte Religion sei." Diese Worte sagen Alles. In ihnen liegt das geschichtliche Urtheil über den Heidenapostel, nicht aber in der müßigen Frage, ob Paulus größer als Jesus oder kleiner als Franz von Assise gewesen sei. Man hat allen Grund, anzunehmen, daß Jesus grade so universalistisch dachte als Paulus, und sein Evangelium für alle Welt ohne Unterschied der Nationalität bestimmte. Aber ausgesprochen war es noch nicht, oder wenn es als Grundsatz ausgesprochen war, so hatte es sich an der Wirklichkeit noch nicht gemessen; es war eine unvermeidliche Consequenz, aber sie war noch nicht gezogen. Jesus selbst, der ausschließlich unter Juden lebte, hatte die Ver¬ anlassung gar nicht, seiner Lehre die polemische Spitze gegen die Exclusivität dieses einzelnen Volksstammes zu geben. Aber die Polemik, der Kampf konnte nicht ausbleiben, wenn die Lehre Jesu eine weltgeschichtliche Bedeu¬ tung haben sollte. Diese Polemik aufgenommen und durchgeführt zu haben, ist der Dienst, den Paulus der Lehre Jesu geleistet hat. Und zwar mußte er den Kampf aufnehmen gegen die unmittelbaren Schüler Jesu selbst, die Renan gleichfalls über Paulus locirt, weil sie „Jesu Wort gehört und die göttlichen Logia und Parabeln aus dem eigenen Munde des Meisters vernommen." Was das Christenthum unter der Leitung dieser bevorzugten Apostel war, als der unabhängige Geist des Paulus in die Bewegung eintrat, und was jene älteren Apostel aus dem Christenthum dem Paulus zum Trotz machen wollten, dafür liegen die geschichtlichen Zeugnisse vor. Es war eine jüdische Secte und es wollte nichts Anderes sein, bis die Energie des Paulus und die thatsächlichen Erfolge seiner Heidenmission den Standpunkt der Jünger Jesu unhaltbar machten. Die Idylle am See Tiberias, die Renan mit so schwärmerischer Begeisterung feiert, hat thatsächlich nicht dazu genügt, die von Jesus ausgesprochenen Ideen zu einem weltgeschichtlichen Princip zu erheben. Soll eine neue Welt geschaffen werden, so bedarf es nicht blos solcher, „die das Ideal anbeten", sondern auch solcher, die den Muth haben, es in die. Wirklichkeit zu tragen und den Widerstand herauszufordern. Dann verwan¬ delt sich die Idylle freilich in Kampf und Streit, der Duft des Ideals ist abgestreift, aber wenn das Christenthum des Paulus mit seiner dogmatischen Begründung in gewissem Sinne bereits eine Entstellung des ursprünglichen Christenthums ist, so ist es doch zugleich die Form gewesen, in welcher das Christenthum weltgeschichtlich fruchtbar geworden ist und die heidnische Welt durch¬ drungen hat. Ein Aehnliches hat sich in der deutschen Reformation wieder- 57"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/459>, abgerufen am 01.07.2024.