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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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auf, daß für die Genauigkeit der thatsächlichen Ereignisse der eigene Bericht
des' Paulus vorzuziehen sei. So namentlich in Betreff jener Zusammenkunft,
die Paulus in Jerusalem mit den älteren Aposteln zu dem Zwecke hatte, die
freiere Weise seiner Predigt zu rechtfertigen. Renan legt hier mit Recht sei¬
ner Erzählung den Bericht des Galaterbriefs zu Grunde, der wesentlich von
dem der Apostelgeschichte abweicht. Es ist ja auch nichts selbstverständlicher,
denn die Darstellung des Paulus, der mitten in diesen Kämpfen stand , ist
ja offenbar zuverlässiger als die eines späteren Schriftstellers, der absichtlich
im Interesse der Versöhnung schrieb. Allein dieses Interesse der Versöhnung
beseelte den Verfasser der Apostelgeschichte nicht lebhafter, als es Renan be¬
seelt; genau dasselbe Geschäft der Vermittelung setzt nach 18 Jahrhunderten
der französische Gelehrte fort. Der Umstand, daß die älteren Apostel im
Bericht des Paulus allerdings nicht im günstigsten Licht erscheinen, genügt,
um ihnen die Protection des edeldenkender inöwbrö Ah 1'institut zu ver¬
schaffen. Ist nicht Paulus selbst Partei? Schreibt er nicht im eigenen In¬
teresse? Ist nicht seine Darstellung "sür die augenblicklichen Bedürfnisse zu¬
gestutzt?" So ist also die Aufgabe des unparteiischen Geschichtsschreibers viel¬
mehr die: "beide Erzählungen zu combiniren, zu ändern und in Einklang zu
bringen." Der ganze Brief an die Galater ist ja auch so leidenschaftlich,
daß Paulus -- so versichert Renan in vollem Ernst -- hätte er sich nur
eine Stunde Ueberlegung gelassen, ihn ohne Zweifel garnicht abgesandt hätte.
Ja er dichtet ihm geradezu nachträgliche Reue an, daß er seine Galater so
schroff angelassen. Kurz, die Vorgänge werden zwar im Wesentlichen richtig
erzählt, aber überall mit Details, deren Zweck ist, den damals zwischen
Judenchristen und Heidenchristen geführten Parteistreit in einem milderen Lichte
erscheinen zu lassen, ganz wie die Kirchenmänner des 2. Jahrhunderts diesen
Zweck verfolgt haben. Bei der bald nach der Besprechung in Jerusalem
stattgehabten Scene in Antiochia, wo Paulus sich genöthigt sieht, Aug in
Auge dem Petrus seine Schwäche und Grundsatzlosigkeit vorzuwerfen, wieder¬
holt sich Nenans verknöchertes System in noch höherem Grade. "Petrus
und Paulus liebten sich", versichert Renan mehrmals angelegentlich, als
wollte er mehr sich selbst als Andere überzeugen. Im Uebrigen ist seine
Parteinahme sür den "guten Petrus" unverkennbar. Dieser wird immer
von den eigentlichen Jerusalemiten getrennt, auf welche all das Maß von
Schuld abgeladen wird, das nicht auf Paulus selber fällt. Trifft es sich, daß
Paulus aus irgend einem Grund von einem Genossen sich trennt, wie von
Barnabas, so läßt Renan durchblicken, daß der Stolz und die Herrschsucht
des Paulus, mit dem kein Mensch auskommen kann, die Schuld trägt. Wo
er dagegen eine vermittelnde Denkart entdeckt oder vermuthet, da ist seine
ganze Sympathie. Er bedauert es, daß Männer wie Barnabas, Timotheus,


auf, daß für die Genauigkeit der thatsächlichen Ereignisse der eigene Bericht
des' Paulus vorzuziehen sei. So namentlich in Betreff jener Zusammenkunft,
die Paulus in Jerusalem mit den älteren Aposteln zu dem Zwecke hatte, die
freiere Weise seiner Predigt zu rechtfertigen. Renan legt hier mit Recht sei¬
ner Erzählung den Bericht des Galaterbriefs zu Grunde, der wesentlich von
dem der Apostelgeschichte abweicht. Es ist ja auch nichts selbstverständlicher,
denn die Darstellung des Paulus, der mitten in diesen Kämpfen stand , ist
ja offenbar zuverlässiger als die eines späteren Schriftstellers, der absichtlich
im Interesse der Versöhnung schrieb. Allein dieses Interesse der Versöhnung
beseelte den Verfasser der Apostelgeschichte nicht lebhafter, als es Renan be¬
seelt; genau dasselbe Geschäft der Vermittelung setzt nach 18 Jahrhunderten
der französische Gelehrte fort. Der Umstand, daß die älteren Apostel im
Bericht des Paulus allerdings nicht im günstigsten Licht erscheinen, genügt,
um ihnen die Protection des edeldenkender inöwbrö Ah 1'institut zu ver¬
schaffen. Ist nicht Paulus selbst Partei? Schreibt er nicht im eigenen In¬
teresse? Ist nicht seine Darstellung „sür die augenblicklichen Bedürfnisse zu¬
gestutzt?" So ist also die Aufgabe des unparteiischen Geschichtsschreibers viel¬
mehr die: „beide Erzählungen zu combiniren, zu ändern und in Einklang zu
bringen." Der ganze Brief an die Galater ist ja auch so leidenschaftlich,
daß Paulus — so versichert Renan in vollem Ernst — hätte er sich nur
eine Stunde Ueberlegung gelassen, ihn ohne Zweifel garnicht abgesandt hätte.
Ja er dichtet ihm geradezu nachträgliche Reue an, daß er seine Galater so
schroff angelassen. Kurz, die Vorgänge werden zwar im Wesentlichen richtig
erzählt, aber überall mit Details, deren Zweck ist, den damals zwischen
Judenchristen und Heidenchristen geführten Parteistreit in einem milderen Lichte
erscheinen zu lassen, ganz wie die Kirchenmänner des 2. Jahrhunderts diesen
Zweck verfolgt haben. Bei der bald nach der Besprechung in Jerusalem
stattgehabten Scene in Antiochia, wo Paulus sich genöthigt sieht, Aug in
Auge dem Petrus seine Schwäche und Grundsatzlosigkeit vorzuwerfen, wieder¬
holt sich Nenans verknöchertes System in noch höherem Grade. „Petrus
und Paulus liebten sich", versichert Renan mehrmals angelegentlich, als
wollte er mehr sich selbst als Andere überzeugen. Im Uebrigen ist seine
Parteinahme sür den „guten Petrus" unverkennbar. Dieser wird immer
von den eigentlichen Jerusalemiten getrennt, auf welche all das Maß von
Schuld abgeladen wird, das nicht auf Paulus selber fällt. Trifft es sich, daß
Paulus aus irgend einem Grund von einem Genossen sich trennt, wie von
Barnabas, so läßt Renan durchblicken, daß der Stolz und die Herrschsucht
des Paulus, mit dem kein Mensch auskommen kann, die Schuld trägt. Wo
er dagegen eine vermittelnde Denkart entdeckt oder vermuthet, da ist seine
ganze Sympathie. Er bedauert es, daß Männer wie Barnabas, Timotheus,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/454>, abgerufen am 25.08.2024.