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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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dein. Nur die Position der Parteien zur Regierung hat sich durch die Er¬
eignisse von 1866 gänzlich versnoben: war früher die liberale Partei in
Hessen stets in Opposition mit der Regierung, welche mit den reactionärsten
Kirchenmännern des evangelischen Deutschland verbündet war. so kämpft
jetzt die gesammte liberale Bevölkerung Hessens an der Seite der preußischen
Regierung gegen die politischen und kirchlichen Particularisten und "Nacht¬
hessen". Kann schon darum der Ausgang des Streites nicht zweifelhaft sein,
wenn die Regierung wirklich ernstlich den Willen hat, ihre Entwürfe zur
Ausführung zu bringen, so ist doch die Möglichkeit dieses Kampfes allein
schon ein deutlicher Fingerzeig für die liberalen Parteien aller deutschen
Kleinstaaten, der ihnen zeigt, wie sie, schwach an sich auf kirchlichem Gebiete,
selbst von einem Ministerium Muster in Preußen in ihren Tendenzen doch
kräftiger unterstützt und ihren Zielen näher geführt werden, als es bis auf
einzelne rühmliche Ausnahmen unter den Particularregierungen der Fall war.
Die innere Tendenz der preußischen Politik und die ganze Structur des
Staates treibt dazu, selbst gegen den Willen einzelner Männer, die wohl gern
anders möchten, aber nicht anders können.

Das ehemalige Kurfürstenthum Hessen zählte Angehörige aller evangelischen
Denominationen zu seinen Unterthanen. Die Hauptmasse ist reformirt. Die
hessischen Landgrafen, die im 16. Jahrhundert die Einheit des Protestantismus
aufrecht zu erhalten sich bemüht hatten, waren den lutherischen Zeloten unter¬
legen und allmälig auf die reformirte Seite hinübergedrängt worden, bis die
Einführung der sogenannten Verbesserungspunkte des Landgrafen Moriz im
Anfang des 17. Jahrhunderts den völligen Uebertritt Hessens zur reformir-
ten Kirche auch äußerlich constatirte. Neben dieser reformirten niederhessi¬
schen Kirche umfaßte der Kurstaat aber auch noch lutherische Kirchengemein"
schaften in Oberhessen (Marburg), Schmalkalden. Schaumburg und Fulda.
Dieselben haben aber kein gleiches Bekenntniß, da für Oberhessen z. B. die
hessische Kirchenordnung von 1S73 maßgebend ist und die Concndienformel
nicht gilt, während die Grajschaft Schaumburg eine ganz andere kirchliche
Entwickelung hinter sich hat. In der Provinz Hanau besteht seit dem Ne-
formationsjubiläum dieses Jahrhunderts die Union zu Recht.

Diese verschiedenen kirchlichen Denominationen wurden nun von Con-
sistorien regiert, die, aus lutherischen und reformirten, geistlichen und welt¬
lichen Mitgliedern zusammengesetzt, den Landesbischof im äußeren Kirchen¬
regiment vertraten. Die Consistorien waren natürlich von dem Ministerium
abhängig und im Großen und Ganzen ohne alles Ansehen bei Geistlichen
und Laien. Man nannte sie die "Briefträger" der Negierung und aus meh¬
reren Gründen heißen bei uns die Truthähne: Consistorialvögel. Der Re.
serere für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Ministerium des Innern


dein. Nur die Position der Parteien zur Regierung hat sich durch die Er¬
eignisse von 1866 gänzlich versnoben: war früher die liberale Partei in
Hessen stets in Opposition mit der Regierung, welche mit den reactionärsten
Kirchenmännern des evangelischen Deutschland verbündet war. so kämpft
jetzt die gesammte liberale Bevölkerung Hessens an der Seite der preußischen
Regierung gegen die politischen und kirchlichen Particularisten und „Nacht¬
hessen". Kann schon darum der Ausgang des Streites nicht zweifelhaft sein,
wenn die Regierung wirklich ernstlich den Willen hat, ihre Entwürfe zur
Ausführung zu bringen, so ist doch die Möglichkeit dieses Kampfes allein
schon ein deutlicher Fingerzeig für die liberalen Parteien aller deutschen
Kleinstaaten, der ihnen zeigt, wie sie, schwach an sich auf kirchlichem Gebiete,
selbst von einem Ministerium Muster in Preußen in ihren Tendenzen doch
kräftiger unterstützt und ihren Zielen näher geführt werden, als es bis auf
einzelne rühmliche Ausnahmen unter den Particularregierungen der Fall war.
Die innere Tendenz der preußischen Politik und die ganze Structur des
Staates treibt dazu, selbst gegen den Willen einzelner Männer, die wohl gern
anders möchten, aber nicht anders können.

Das ehemalige Kurfürstenthum Hessen zählte Angehörige aller evangelischen
Denominationen zu seinen Unterthanen. Die Hauptmasse ist reformirt. Die
hessischen Landgrafen, die im 16. Jahrhundert die Einheit des Protestantismus
aufrecht zu erhalten sich bemüht hatten, waren den lutherischen Zeloten unter¬
legen und allmälig auf die reformirte Seite hinübergedrängt worden, bis die
Einführung der sogenannten Verbesserungspunkte des Landgrafen Moriz im
Anfang des 17. Jahrhunderts den völligen Uebertritt Hessens zur reformir-
ten Kirche auch äußerlich constatirte. Neben dieser reformirten niederhessi¬
schen Kirche umfaßte der Kurstaat aber auch noch lutherische Kirchengemein»
schaften in Oberhessen (Marburg), Schmalkalden. Schaumburg und Fulda.
Dieselben haben aber kein gleiches Bekenntniß, da für Oberhessen z. B. die
hessische Kirchenordnung von 1S73 maßgebend ist und die Concndienformel
nicht gilt, während die Grajschaft Schaumburg eine ganz andere kirchliche
Entwickelung hinter sich hat. In der Provinz Hanau besteht seit dem Ne-
formationsjubiläum dieses Jahrhunderts die Union zu Recht.

Diese verschiedenen kirchlichen Denominationen wurden nun von Con-
sistorien regiert, die, aus lutherischen und reformirten, geistlichen und welt¬
lichen Mitgliedern zusammengesetzt, den Landesbischof im äußeren Kirchen¬
regiment vertraten. Die Consistorien waren natürlich von dem Ministerium
abhängig und im Großen und Ganzen ohne alles Ansehen bei Geistlichen
und Laien. Man nannte sie die „Briefträger" der Negierung und aus meh¬
reren Gründen heißen bei uns die Truthähne: Consistorialvögel. Der Re.
serere für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Ministerium des Innern


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[0414] dein. Nur die Position der Parteien zur Regierung hat sich durch die Er¬ eignisse von 1866 gänzlich versnoben: war früher die liberale Partei in Hessen stets in Opposition mit der Regierung, welche mit den reactionärsten Kirchenmännern des evangelischen Deutschland verbündet war. so kämpft jetzt die gesammte liberale Bevölkerung Hessens an der Seite der preußischen Regierung gegen die politischen und kirchlichen Particularisten und „Nacht¬ hessen". Kann schon darum der Ausgang des Streites nicht zweifelhaft sein, wenn die Regierung wirklich ernstlich den Willen hat, ihre Entwürfe zur Ausführung zu bringen, so ist doch die Möglichkeit dieses Kampfes allein schon ein deutlicher Fingerzeig für die liberalen Parteien aller deutschen Kleinstaaten, der ihnen zeigt, wie sie, schwach an sich auf kirchlichem Gebiete, selbst von einem Ministerium Muster in Preußen in ihren Tendenzen doch kräftiger unterstützt und ihren Zielen näher geführt werden, als es bis auf einzelne rühmliche Ausnahmen unter den Particularregierungen der Fall war. Die innere Tendenz der preußischen Politik und die ganze Structur des Staates treibt dazu, selbst gegen den Willen einzelner Männer, die wohl gern anders möchten, aber nicht anders können. Das ehemalige Kurfürstenthum Hessen zählte Angehörige aller evangelischen Denominationen zu seinen Unterthanen. Die Hauptmasse ist reformirt. Die hessischen Landgrafen, die im 16. Jahrhundert die Einheit des Protestantismus aufrecht zu erhalten sich bemüht hatten, waren den lutherischen Zeloten unter¬ legen und allmälig auf die reformirte Seite hinübergedrängt worden, bis die Einführung der sogenannten Verbesserungspunkte des Landgrafen Moriz im Anfang des 17. Jahrhunderts den völligen Uebertritt Hessens zur reformir- ten Kirche auch äußerlich constatirte. Neben dieser reformirten niederhessi¬ schen Kirche umfaßte der Kurstaat aber auch noch lutherische Kirchengemein» schaften in Oberhessen (Marburg), Schmalkalden. Schaumburg und Fulda. Dieselben haben aber kein gleiches Bekenntniß, da für Oberhessen z. B. die hessische Kirchenordnung von 1S73 maßgebend ist und die Concndienformel nicht gilt, während die Grajschaft Schaumburg eine ganz andere kirchliche Entwickelung hinter sich hat. In der Provinz Hanau besteht seit dem Ne- formationsjubiläum dieses Jahrhunderts die Union zu Recht. Diese verschiedenen kirchlichen Denominationen wurden nun von Con- sistorien regiert, die, aus lutherischen und reformirten, geistlichen und welt¬ lichen Mitgliedern zusammengesetzt, den Landesbischof im äußeren Kirchen¬ regiment vertraten. Die Consistorien waren natürlich von dem Ministerium abhängig und im Großen und Ganzen ohne alles Ansehen bei Geistlichen und Laien. Man nannte sie die „Briefträger" der Negierung und aus meh¬ reren Gründen heißen bei uns die Truthähne: Consistorialvögel. Der Re. serere für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Ministerium des Innern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/414>, abgerufen am 22.07.2024.