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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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der bourbonischen, sich ihrer erbarmt, weil sie sich am wohlsten fühlt unter
Ruinen. Was noch vorhanden ist von den Tributen Cyperns und der Morea
oder von den Ueberschüssen des Monopolhandels zwischen Abendland und Mor¬
genland, liegt entweder im Landbesitz fest oder steckt nach Bauernart in alten
Truhen. Der heutige Nobile scheint sogar gut zu thun, wenn er mit dem
glücklich geretteten Capital der Ahnen nicht nach modernem Zinsenerwerb
geizt. Dieser und jener, der sich zur Betheiligung an irgend einer Speku¬
lation hatte verleiten lassen, ist übel angekommen. Es geht ihnen selbst jenes
bescheidene Maß von Verständniß heutiger Geschäftsumstände ab, das zur
Beurtheilung der Sicherheit industrieller und mercantiler Anlagen von der
einfachsten Art gehört.

Die große herrschende Erwerbsquelle des heutigen Venedig ist der
Fremdenbesuch. Es lebt davon, daß das alte Venedig im Stande gewesen
ist, Paläste und Kirchen von märchenhafter Pracht zu errichten, Gemälde und
Sculpturwerke in denselben anzuhäufen, die das Entzücken der kunstempfin¬
denden Welt sind. Von diesem Genuß, dessen Reiz die hohe Originalität
der Stadtanlage auf den Gipfel treibt, eine möglichst ausgiebige Steuer zu
erheben, ist der allgemeine Beruf der Venetianer unserer Zeit. Natürlich kann
es nicht mehr auf den Wegen der Gewalt geschehen; es nimmt daher die
friedlichere und gutmüthigere, aber noch mehr erniedrigende Form der Bette¬
lei an. Bettelei ist in Venedig Alles, kann man sagen, selbst ein erheblicher
Theil des täglichen kleinen Handels und Wandels. Die Specialitäten des
localen Gewerbfleißes werden Einem um Gottes Willen aufgedrängt, wo
man geht und steht. Eine Gondel kann nicht landen oder abstoßen, ohne
daß irgend ein Lungerer von der nächsten Ecke ihr einen überflüssigen Stoß
oder Zug gibt, der des Reisenden kleiner Münze gilt. Das venetianische Genie,
in seiner Art nicht weniger drollig als die Kameraden von Paris und Ber¬
lin, unterscheidet sich von ihnen wesentlich durch die kostbare Naivetät, mit
der es jeden Fremden als tributpflichtig und selbst einen zufälligen unangenehmen
Zusammenstoß z. B. als einen rechtmäßigen Anlaß für seine Geschenkforderung
ansieht. Die entsprechende Lippenbewegung ist ihm zur anderen Natur ge¬
worden, so daß sie sich wie von selbst einstellt, sobald sein Scharfblick den
Fremden erkennt. Warum sollte er auch nicht betteln, wenn selbst der Ver¬
käufer des reichstversorgten Magazins sich nicht scheut zu prellen? Man muß
in jedem Laden handeln, wo nicht feste Preise der Waare angeklebt sind,
und selbst dann läßt sich fast allemal noch abdingen.

Ein wenig Industrie wird in Venedig noch mit einem gewissen Schwung
und Erfolg betrieben: Glasperlen, Spiegel, Mosaikarbeiten u. tgi. in. Der
Handel aber ist kaum ein Schatten seiner vormaligen Bedeutung. Trieft hat
seine berühmte Nebenbuhlerin überwunden und Genua mit weit erfolgreicherer


der bourbonischen, sich ihrer erbarmt, weil sie sich am wohlsten fühlt unter
Ruinen. Was noch vorhanden ist von den Tributen Cyperns und der Morea
oder von den Ueberschüssen des Monopolhandels zwischen Abendland und Mor¬
genland, liegt entweder im Landbesitz fest oder steckt nach Bauernart in alten
Truhen. Der heutige Nobile scheint sogar gut zu thun, wenn er mit dem
glücklich geretteten Capital der Ahnen nicht nach modernem Zinsenerwerb
geizt. Dieser und jener, der sich zur Betheiligung an irgend einer Speku¬
lation hatte verleiten lassen, ist übel angekommen. Es geht ihnen selbst jenes
bescheidene Maß von Verständniß heutiger Geschäftsumstände ab, das zur
Beurtheilung der Sicherheit industrieller und mercantiler Anlagen von der
einfachsten Art gehört.

Die große herrschende Erwerbsquelle des heutigen Venedig ist der
Fremdenbesuch. Es lebt davon, daß das alte Venedig im Stande gewesen
ist, Paläste und Kirchen von märchenhafter Pracht zu errichten, Gemälde und
Sculpturwerke in denselben anzuhäufen, die das Entzücken der kunstempfin¬
denden Welt sind. Von diesem Genuß, dessen Reiz die hohe Originalität
der Stadtanlage auf den Gipfel treibt, eine möglichst ausgiebige Steuer zu
erheben, ist der allgemeine Beruf der Venetianer unserer Zeit. Natürlich kann
es nicht mehr auf den Wegen der Gewalt geschehen; es nimmt daher die
friedlichere und gutmüthigere, aber noch mehr erniedrigende Form der Bette¬
lei an. Bettelei ist in Venedig Alles, kann man sagen, selbst ein erheblicher
Theil des täglichen kleinen Handels und Wandels. Die Specialitäten des
localen Gewerbfleißes werden Einem um Gottes Willen aufgedrängt, wo
man geht und steht. Eine Gondel kann nicht landen oder abstoßen, ohne
daß irgend ein Lungerer von der nächsten Ecke ihr einen überflüssigen Stoß
oder Zug gibt, der des Reisenden kleiner Münze gilt. Das venetianische Genie,
in seiner Art nicht weniger drollig als die Kameraden von Paris und Ber¬
lin, unterscheidet sich von ihnen wesentlich durch die kostbare Naivetät, mit
der es jeden Fremden als tributpflichtig und selbst einen zufälligen unangenehmen
Zusammenstoß z. B. als einen rechtmäßigen Anlaß für seine Geschenkforderung
ansieht. Die entsprechende Lippenbewegung ist ihm zur anderen Natur ge¬
worden, so daß sie sich wie von selbst einstellt, sobald sein Scharfblick den
Fremden erkennt. Warum sollte er auch nicht betteln, wenn selbst der Ver¬
käufer des reichstversorgten Magazins sich nicht scheut zu prellen? Man muß
in jedem Laden handeln, wo nicht feste Preise der Waare angeklebt sind,
und selbst dann läßt sich fast allemal noch abdingen.

Ein wenig Industrie wird in Venedig noch mit einem gewissen Schwung
und Erfolg betrieben: Glasperlen, Spiegel, Mosaikarbeiten u. tgi. in. Der
Handel aber ist kaum ein Schatten seiner vormaligen Bedeutung. Trieft hat
seine berühmte Nebenbuhlerin überwunden und Genua mit weit erfolgreicherer


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[0354] der bourbonischen, sich ihrer erbarmt, weil sie sich am wohlsten fühlt unter Ruinen. Was noch vorhanden ist von den Tributen Cyperns und der Morea oder von den Ueberschüssen des Monopolhandels zwischen Abendland und Mor¬ genland, liegt entweder im Landbesitz fest oder steckt nach Bauernart in alten Truhen. Der heutige Nobile scheint sogar gut zu thun, wenn er mit dem glücklich geretteten Capital der Ahnen nicht nach modernem Zinsenerwerb geizt. Dieser und jener, der sich zur Betheiligung an irgend einer Speku¬ lation hatte verleiten lassen, ist übel angekommen. Es geht ihnen selbst jenes bescheidene Maß von Verständniß heutiger Geschäftsumstände ab, das zur Beurtheilung der Sicherheit industrieller und mercantiler Anlagen von der einfachsten Art gehört. Die große herrschende Erwerbsquelle des heutigen Venedig ist der Fremdenbesuch. Es lebt davon, daß das alte Venedig im Stande gewesen ist, Paläste und Kirchen von märchenhafter Pracht zu errichten, Gemälde und Sculpturwerke in denselben anzuhäufen, die das Entzücken der kunstempfin¬ denden Welt sind. Von diesem Genuß, dessen Reiz die hohe Originalität der Stadtanlage auf den Gipfel treibt, eine möglichst ausgiebige Steuer zu erheben, ist der allgemeine Beruf der Venetianer unserer Zeit. Natürlich kann es nicht mehr auf den Wegen der Gewalt geschehen; es nimmt daher die friedlichere und gutmüthigere, aber noch mehr erniedrigende Form der Bette¬ lei an. Bettelei ist in Venedig Alles, kann man sagen, selbst ein erheblicher Theil des täglichen kleinen Handels und Wandels. Die Specialitäten des localen Gewerbfleißes werden Einem um Gottes Willen aufgedrängt, wo man geht und steht. Eine Gondel kann nicht landen oder abstoßen, ohne daß irgend ein Lungerer von der nächsten Ecke ihr einen überflüssigen Stoß oder Zug gibt, der des Reisenden kleiner Münze gilt. Das venetianische Genie, in seiner Art nicht weniger drollig als die Kameraden von Paris und Ber¬ lin, unterscheidet sich von ihnen wesentlich durch die kostbare Naivetät, mit der es jeden Fremden als tributpflichtig und selbst einen zufälligen unangenehmen Zusammenstoß z. B. als einen rechtmäßigen Anlaß für seine Geschenkforderung ansieht. Die entsprechende Lippenbewegung ist ihm zur anderen Natur ge¬ worden, so daß sie sich wie von selbst einstellt, sobald sein Scharfblick den Fremden erkennt. Warum sollte er auch nicht betteln, wenn selbst der Ver¬ käufer des reichstversorgten Magazins sich nicht scheut zu prellen? Man muß in jedem Laden handeln, wo nicht feste Preise der Waare angeklebt sind, und selbst dann läßt sich fast allemal noch abdingen. Ein wenig Industrie wird in Venedig noch mit einem gewissen Schwung und Erfolg betrieben: Glasperlen, Spiegel, Mosaikarbeiten u. tgi. in. Der Handel aber ist kaum ein Schatten seiner vormaligen Bedeutung. Trieft hat seine berühmte Nebenbuhlerin überwunden und Genua mit weit erfolgreicherer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/354>, abgerufen am 01.07.2024.