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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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begonnen haben und gleich diesen mehr und mehr in die großrussische Strö¬
mung gezogen werden. Diese ungarischen Ruthenen stehen natürlich mit den
übrigen slavischen und zur griechischen Kirche gehörigen Bewohnern des
Königreichs in Beziehung -- sie geben die Mittelglieder zwischen diesen
und den panslavistischen Agitatoren im Nordosten ab. Gerade wie in Lem-
berg, so wird auch in Unghv",r, dem Hauptort des erwähnten Comitats,
daran gearbeitet, die großrussische Literatursprache zur herrschenden zumachen,
in Nußland erscheinende Bücher und Zeitschriften zu verbreiten, das nationale
Bewußtsein des Volks und das patriotische Ehrgefühl der magyarisirten höheren
Classen zu wecken und die Einführung russischen Unterrichts in die höheren
Lehranstalten herbeizuführen. Das seit einigen Jahren zu Unghvar erscheinende
kirchliche Wochenblatt "Toise" ist das Organ dieser Bestrebungen und hat nach
den Zeugnissen russischer Journale, trotz der Kürze der Zeit, bereits bemerkens¬
werthe Resultate erzielt. -- Bis jetzt haben die slavischen Bewohner Ungarns
sich trotz ihrer Unzufriedenheit mit der magyarischen Alleinherrschaft, welche
durch den Ausgleich vom Sommer 1867 geschaffen wurde, im Ganzen sehr
still gehalten. Die Kroaten sind eigentlich die einzige zur Stephanskrone ge¬
hörige Völkerschaft, welche zuweilen von sich reden macht und auch sie haben
sich in die neugeschaffenen Verhältnisse vorläufig gefügt.

Daß diese Fügsamkeit keine ewige sein werde, weiß man aber auch in
Pesth, so viel man sich auch auf die magyarischeUeberlegenheit über die unge¬
bildeten und zerfahrenen Slavenstämme zu Gute thun mag. Ungarn zählt
beinahe vier Millionen Bekenner der griechischen Kirche und "'/g derselben ge¬
hört nicht der unirten, sondern derselben Glaubensgemeinschaft an, welche in
Nußland herrschend ist. Schon aus diesem Grunde ist die bis jetzt behaup¬
tete Herrschaft der Polen über die Rutheneu Galiziens für Ungarn von hoher
Wichtigkeit. Wird dieselbe einmal beseitigt und das östliche Galizien -- mit
oder ohne Zugehörigkeit zum russischen Staat -- zu einem specifisch russischen
Lande gemacht, so können von dorther ohne Mühe Hebel angesetzt werden,
um die sprach- und glaubensverwandten Slaven der Stephanskrone, nament¬
lich die Nuthenen der östlichen Comitate, aus ihrer Apathie und Bedeutungs¬
losigkeit zu erheben und gegen die katholischen Magyaren ins Treffen zu
führen. Haben die griechisch-orthodoxen und unirten Slaven Ungarns eine
führende Macht, so ist es um die Ungefährlichkeit, die ihnen heute nachge¬
sagt wird, geschehen; die kirchlichen Gegensätze sind im östlichen Europa allent¬
halben die durchschlagenden und können leicht in politische umgesetzt werden.
Sobald Rußland völlig freien Zugang zu den Karpathen und deren west¬
lichem Hinterkante hat, erscheint das Magyarenthum ernstlich gefährdet.

Schon aus diesen Gründen hat Ungarn ein lebhaftes Interesse an der
Zukunft des polnischen Elements in Galizien und die den Entscheidungen


begonnen haben und gleich diesen mehr und mehr in die großrussische Strö¬
mung gezogen werden. Diese ungarischen Ruthenen stehen natürlich mit den
übrigen slavischen und zur griechischen Kirche gehörigen Bewohnern des
Königreichs in Beziehung — sie geben die Mittelglieder zwischen diesen
und den panslavistischen Agitatoren im Nordosten ab. Gerade wie in Lem-
berg, so wird auch in Unghv«,r, dem Hauptort des erwähnten Comitats,
daran gearbeitet, die großrussische Literatursprache zur herrschenden zumachen,
in Nußland erscheinende Bücher und Zeitschriften zu verbreiten, das nationale
Bewußtsein des Volks und das patriotische Ehrgefühl der magyarisirten höheren
Classen zu wecken und die Einführung russischen Unterrichts in die höheren
Lehranstalten herbeizuführen. Das seit einigen Jahren zu Unghvar erscheinende
kirchliche Wochenblatt „Toise" ist das Organ dieser Bestrebungen und hat nach
den Zeugnissen russischer Journale, trotz der Kürze der Zeit, bereits bemerkens¬
werthe Resultate erzielt. — Bis jetzt haben die slavischen Bewohner Ungarns
sich trotz ihrer Unzufriedenheit mit der magyarischen Alleinherrschaft, welche
durch den Ausgleich vom Sommer 1867 geschaffen wurde, im Ganzen sehr
still gehalten. Die Kroaten sind eigentlich die einzige zur Stephanskrone ge¬
hörige Völkerschaft, welche zuweilen von sich reden macht und auch sie haben
sich in die neugeschaffenen Verhältnisse vorläufig gefügt.

Daß diese Fügsamkeit keine ewige sein werde, weiß man aber auch in
Pesth, so viel man sich auch auf die magyarischeUeberlegenheit über die unge¬
bildeten und zerfahrenen Slavenstämme zu Gute thun mag. Ungarn zählt
beinahe vier Millionen Bekenner der griechischen Kirche und "'/g derselben ge¬
hört nicht der unirten, sondern derselben Glaubensgemeinschaft an, welche in
Nußland herrschend ist. Schon aus diesem Grunde ist die bis jetzt behaup¬
tete Herrschaft der Polen über die Rutheneu Galiziens für Ungarn von hoher
Wichtigkeit. Wird dieselbe einmal beseitigt und das östliche Galizien — mit
oder ohne Zugehörigkeit zum russischen Staat — zu einem specifisch russischen
Lande gemacht, so können von dorther ohne Mühe Hebel angesetzt werden,
um die sprach- und glaubensverwandten Slaven der Stephanskrone, nament¬
lich die Nuthenen der östlichen Comitate, aus ihrer Apathie und Bedeutungs¬
losigkeit zu erheben und gegen die katholischen Magyaren ins Treffen zu
führen. Haben die griechisch-orthodoxen und unirten Slaven Ungarns eine
führende Macht, so ist es um die Ungefährlichkeit, die ihnen heute nachge¬
sagt wird, geschehen; die kirchlichen Gegensätze sind im östlichen Europa allent¬
halben die durchschlagenden und können leicht in politische umgesetzt werden.
Sobald Rußland völlig freien Zugang zu den Karpathen und deren west¬
lichem Hinterkante hat, erscheint das Magyarenthum ernstlich gefährdet.

Schon aus diesen Gründen hat Ungarn ein lebhaftes Interesse an der
Zukunft des polnischen Elements in Galizien und die den Entscheidungen


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[0352] begonnen haben und gleich diesen mehr und mehr in die großrussische Strö¬ mung gezogen werden. Diese ungarischen Ruthenen stehen natürlich mit den übrigen slavischen und zur griechischen Kirche gehörigen Bewohnern des Königreichs in Beziehung — sie geben die Mittelglieder zwischen diesen und den panslavistischen Agitatoren im Nordosten ab. Gerade wie in Lem- berg, so wird auch in Unghv«,r, dem Hauptort des erwähnten Comitats, daran gearbeitet, die großrussische Literatursprache zur herrschenden zumachen, in Nußland erscheinende Bücher und Zeitschriften zu verbreiten, das nationale Bewußtsein des Volks und das patriotische Ehrgefühl der magyarisirten höheren Classen zu wecken und die Einführung russischen Unterrichts in die höheren Lehranstalten herbeizuführen. Das seit einigen Jahren zu Unghvar erscheinende kirchliche Wochenblatt „Toise" ist das Organ dieser Bestrebungen und hat nach den Zeugnissen russischer Journale, trotz der Kürze der Zeit, bereits bemerkens¬ werthe Resultate erzielt. — Bis jetzt haben die slavischen Bewohner Ungarns sich trotz ihrer Unzufriedenheit mit der magyarischen Alleinherrschaft, welche durch den Ausgleich vom Sommer 1867 geschaffen wurde, im Ganzen sehr still gehalten. Die Kroaten sind eigentlich die einzige zur Stephanskrone ge¬ hörige Völkerschaft, welche zuweilen von sich reden macht und auch sie haben sich in die neugeschaffenen Verhältnisse vorläufig gefügt. Daß diese Fügsamkeit keine ewige sein werde, weiß man aber auch in Pesth, so viel man sich auch auf die magyarischeUeberlegenheit über die unge¬ bildeten und zerfahrenen Slavenstämme zu Gute thun mag. Ungarn zählt beinahe vier Millionen Bekenner der griechischen Kirche und "'/g derselben ge¬ hört nicht der unirten, sondern derselben Glaubensgemeinschaft an, welche in Nußland herrschend ist. Schon aus diesem Grunde ist die bis jetzt behaup¬ tete Herrschaft der Polen über die Rutheneu Galiziens für Ungarn von hoher Wichtigkeit. Wird dieselbe einmal beseitigt und das östliche Galizien — mit oder ohne Zugehörigkeit zum russischen Staat — zu einem specifisch russischen Lande gemacht, so können von dorther ohne Mühe Hebel angesetzt werden, um die sprach- und glaubensverwandten Slaven der Stephanskrone, nament¬ lich die Nuthenen der östlichen Comitate, aus ihrer Apathie und Bedeutungs¬ losigkeit zu erheben und gegen die katholischen Magyaren ins Treffen zu führen. Haben die griechisch-orthodoxen und unirten Slaven Ungarns eine führende Macht, so ist es um die Ungefährlichkeit, die ihnen heute nachge¬ sagt wird, geschehen; die kirchlichen Gegensätze sind im östlichen Europa allent¬ halben die durchschlagenden und können leicht in politische umgesetzt werden. Sobald Rußland völlig freien Zugang zu den Karpathen und deren west¬ lichem Hinterkante hat, erscheint das Magyarenthum ernstlich gefährdet. Schon aus diesen Gründen hat Ungarn ein lebhaftes Interesse an der Zukunft des polnischen Elements in Galizien und die den Entscheidungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/352>, abgerufen am 01.07.2024.