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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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stattgefundenen Union mit historischen, staatsrechtlichen und politischen Grün¬
den nachzuweisen suchte, und auch die specifischen Kleinrussen sahen sich ver¬
anlaßt in einer als Brochüre gedruckten Kundgebung gegen diese historische
Thatsache nachträgliche Verwahrung einzulegen. Nichtsdestoweniger fanden
am 11. August zu Lemberg und an andern Orten Aufzüge statt und wurde der
Gedenktag von einzelnen russischen Landpriestern, bei welchen die von der
Partei ausgegebenen Parole nicht rasch genug angelangt sein mochte, in der
Stille begangen; anderweitige Demonstrationen waren -- und zwar, wie
es heißt -- auf Betreiben der polnischen Adelspartei, polizeilich untersagt
worden.

Im polnischen Lager hatte nämlich schon seit längerer Zeit ein Bürger¬
krieg gespielt, der die Einheit desselben sprengte, Aristokraten und Demo¬
kraten ohne Rücksicht auf die gemeinsamen Gegner verschiedene Wege führte
und die polnische Zwiespältigkeit aufs Neue in ein grelles Licht setzte. Seit
dem verhängnißvollen Landtage vom Sommer 1868 standen sich zwei Par¬
teien feindlich entgegen, welche denselben Gegensatz wiederspiegelten, der im
I. 1863 den Gouverneur von Russisch-Polen Marquis Wielopolski gestürzt
und den unglücklichsten aller polnischen Aufstandsversuche herbeigeführt hatte.
Die unverbesserliche Demokratie, an deren Spitze Smolka steht und die nament¬
lich in den Städten zahlreiche Anhänger zählt, hielt stritt an den Forderungen
von 1868 fest, verlangte offenen Bruch mit dem Ministerium gemeinsame
Action mit den übrigen slavischen Föderalisten und demgemäß Austritt der
polnischen Reichsrath-Vertreter. Auf diese Weise hoffte man die cisleithanischen
Minister zur Nachgiebigkeit und zur Bewilligung aller polnischen Forde¬
rungen, namentlich der besonderen galizischen Staatskanzlei zwingen zu können.
In diesem Sinne wurde weiter verlangt, daß jede Gelegenheit zu regierungs¬
feindlichen Demonstrationen benutzt und das Beispiel der czechischen Oppo¬
sition (mit welcher Smolka in engem Bündniß steht) nachgeahmt werden sollte.

Die "weiße" Partei (d. h. die aristokratische), an deren Spitze der ehe¬
malige Statthalter von Galizien Graf Agenor Goluchowski steht, hatte eine
zu lange Reihe trauriger Erfahrungen hinter sich, um auf diese thörichten
Forderungen eingehen und die zweifellose Gunst der Wiener Machthaber
einem Phantom zu Liebe aufs Spiel setzen zu wollen. Die Regierung hatte
ihre Willfährigkeit für das polnische Interesse noch eben durch das neue
Sprachenedict gezeigt, sie war die einzige europäische Macht, welche die natio¬
nalen Ansprüche Polens praktisch anerkannte -- und ihr sollte man den Dienst
aufsagen, ohne daß diese Aufkündigung andere Vortheile bringen konnte,
als die unzuverlässige Freundschaft der czechischen Föderalisten? Schon die Rück¬
sicht auf das gespannte Verhältniß des Czechenthums zu den Magyaren
machte jedes Bündniß mit den slavischen Föderalisten unrathsam und das


stattgefundenen Union mit historischen, staatsrechtlichen und politischen Grün¬
den nachzuweisen suchte, und auch die specifischen Kleinrussen sahen sich ver¬
anlaßt in einer als Brochüre gedruckten Kundgebung gegen diese historische
Thatsache nachträgliche Verwahrung einzulegen. Nichtsdestoweniger fanden
am 11. August zu Lemberg und an andern Orten Aufzüge statt und wurde der
Gedenktag von einzelnen russischen Landpriestern, bei welchen die von der
Partei ausgegebenen Parole nicht rasch genug angelangt sein mochte, in der
Stille begangen; anderweitige Demonstrationen waren — und zwar, wie
es heißt — auf Betreiben der polnischen Adelspartei, polizeilich untersagt
worden.

Im polnischen Lager hatte nämlich schon seit längerer Zeit ein Bürger¬
krieg gespielt, der die Einheit desselben sprengte, Aristokraten und Demo¬
kraten ohne Rücksicht auf die gemeinsamen Gegner verschiedene Wege führte
und die polnische Zwiespältigkeit aufs Neue in ein grelles Licht setzte. Seit
dem verhängnißvollen Landtage vom Sommer 1868 standen sich zwei Par¬
teien feindlich entgegen, welche denselben Gegensatz wiederspiegelten, der im
I. 1863 den Gouverneur von Russisch-Polen Marquis Wielopolski gestürzt
und den unglücklichsten aller polnischen Aufstandsversuche herbeigeführt hatte.
Die unverbesserliche Demokratie, an deren Spitze Smolka steht und die nament¬
lich in den Städten zahlreiche Anhänger zählt, hielt stritt an den Forderungen
von 1868 fest, verlangte offenen Bruch mit dem Ministerium gemeinsame
Action mit den übrigen slavischen Föderalisten und demgemäß Austritt der
polnischen Reichsrath-Vertreter. Auf diese Weise hoffte man die cisleithanischen
Minister zur Nachgiebigkeit und zur Bewilligung aller polnischen Forde¬
rungen, namentlich der besonderen galizischen Staatskanzlei zwingen zu können.
In diesem Sinne wurde weiter verlangt, daß jede Gelegenheit zu regierungs¬
feindlichen Demonstrationen benutzt und das Beispiel der czechischen Oppo¬
sition (mit welcher Smolka in engem Bündniß steht) nachgeahmt werden sollte.

Die „weiße" Partei (d. h. die aristokratische), an deren Spitze der ehe¬
malige Statthalter von Galizien Graf Agenor Goluchowski steht, hatte eine
zu lange Reihe trauriger Erfahrungen hinter sich, um auf diese thörichten
Forderungen eingehen und die zweifellose Gunst der Wiener Machthaber
einem Phantom zu Liebe aufs Spiel setzen zu wollen. Die Regierung hatte
ihre Willfährigkeit für das polnische Interesse noch eben durch das neue
Sprachenedict gezeigt, sie war die einzige europäische Macht, welche die natio¬
nalen Ansprüche Polens praktisch anerkannte — und ihr sollte man den Dienst
aufsagen, ohne daß diese Aufkündigung andere Vortheile bringen konnte,
als die unzuverlässige Freundschaft der czechischen Föderalisten? Schon die Rück¬
sicht auf das gespannte Verhältniß des Czechenthums zu den Magyaren
machte jedes Bündniß mit den slavischen Föderalisten unrathsam und das


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[0349] stattgefundenen Union mit historischen, staatsrechtlichen und politischen Grün¬ den nachzuweisen suchte, und auch die specifischen Kleinrussen sahen sich ver¬ anlaßt in einer als Brochüre gedruckten Kundgebung gegen diese historische Thatsache nachträgliche Verwahrung einzulegen. Nichtsdestoweniger fanden am 11. August zu Lemberg und an andern Orten Aufzüge statt und wurde der Gedenktag von einzelnen russischen Landpriestern, bei welchen die von der Partei ausgegebenen Parole nicht rasch genug angelangt sein mochte, in der Stille begangen; anderweitige Demonstrationen waren — und zwar, wie es heißt — auf Betreiben der polnischen Adelspartei, polizeilich untersagt worden. Im polnischen Lager hatte nämlich schon seit längerer Zeit ein Bürger¬ krieg gespielt, der die Einheit desselben sprengte, Aristokraten und Demo¬ kraten ohne Rücksicht auf die gemeinsamen Gegner verschiedene Wege führte und die polnische Zwiespältigkeit aufs Neue in ein grelles Licht setzte. Seit dem verhängnißvollen Landtage vom Sommer 1868 standen sich zwei Par¬ teien feindlich entgegen, welche denselben Gegensatz wiederspiegelten, der im I. 1863 den Gouverneur von Russisch-Polen Marquis Wielopolski gestürzt und den unglücklichsten aller polnischen Aufstandsversuche herbeigeführt hatte. Die unverbesserliche Demokratie, an deren Spitze Smolka steht und die nament¬ lich in den Städten zahlreiche Anhänger zählt, hielt stritt an den Forderungen von 1868 fest, verlangte offenen Bruch mit dem Ministerium gemeinsame Action mit den übrigen slavischen Föderalisten und demgemäß Austritt der polnischen Reichsrath-Vertreter. Auf diese Weise hoffte man die cisleithanischen Minister zur Nachgiebigkeit und zur Bewilligung aller polnischen Forde¬ rungen, namentlich der besonderen galizischen Staatskanzlei zwingen zu können. In diesem Sinne wurde weiter verlangt, daß jede Gelegenheit zu regierungs¬ feindlichen Demonstrationen benutzt und das Beispiel der czechischen Oppo¬ sition (mit welcher Smolka in engem Bündniß steht) nachgeahmt werden sollte. Die „weiße" Partei (d. h. die aristokratische), an deren Spitze der ehe¬ malige Statthalter von Galizien Graf Agenor Goluchowski steht, hatte eine zu lange Reihe trauriger Erfahrungen hinter sich, um auf diese thörichten Forderungen eingehen und die zweifellose Gunst der Wiener Machthaber einem Phantom zu Liebe aufs Spiel setzen zu wollen. Die Regierung hatte ihre Willfährigkeit für das polnische Interesse noch eben durch das neue Sprachenedict gezeigt, sie war die einzige europäische Macht, welche die natio¬ nalen Ansprüche Polens praktisch anerkannte — und ihr sollte man den Dienst aufsagen, ohne daß diese Aufkündigung andere Vortheile bringen konnte, als die unzuverlässige Freundschaft der czechischen Föderalisten? Schon die Rück¬ sicht auf das gespannte Verhältniß des Czechenthums zu den Magyaren machte jedes Bündniß mit den slavischen Föderalisten unrathsam und das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/349>, abgerufen am 24.08.2024.