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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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der Vormächte des Protestantismus zu fühlen; die Niederlande waren eine
ganz neue, kräftig aufblühende, von lebhaftestem Selbständigkeitstriebe er¬
füllte Schöpfung, die alle Kraft und Klugheit aufzubieten hatte, um zwischen
der offenen Feindschaft Spaniens, der freundschaftlichen Zudringlichkeit Frank¬
reichs, der Eifersucht Englands ihre Unabhängigkeit zu behaupten; Schweden
hatte in raschem Fluge eine Macht gewonnen, die es keineswegs als bloße
Chimäre erscheinen ließ, wenn seine genialen Fürsten und Staatsmänner den
Gedanken einer nordisch-protestantischen Universalmonarchie zu verwirklichen
strebten -- und inmitten dieser Gewaltigen das deutsche Reich im Zustande
arger Zerrüttung und Auflösung. Die Fürsten hatten die erstrebte Libertät
erreicht, die Entwickelung der Territorialpolitik hatte einen mächtigen Fort¬
schritt gemacht. Aber einerseits die Bemühungen Oestreichs, die Lockerung
des Neichsverbandes zu einer Steigerung der Habsburgischen Hausmacht zu
benutzen, die Libertät also grade gegen die Stände zu kehren, und anderer¬
seits das Streben Frankreichs, sich den Ständen als Beschützer der Libertät
gegen die despotischen Entwürfe Oestreichs zu empfehlen und aufzudrängen,
zeigten, daß die gewonnene Unabhängigkeit, die nicht bloß das Verhältniß der
Glieder zu dem Haupte, sondern auch der Glieder unter einander gelockert
hatte, fürs Erste ein Gut von sehr zweifelhaftem Werthe sei.

Dieser Zustand der deutschen Verhältnisse bildet recht eigentlich den
Mittelpunkt der damaligen Weltpolitik. Deutschland war das Gebiet, auf
dem die drei großen Mächte Frankreich, Oestreich, Schweden sich auszubreiten
suchten; an den deuischen Höfen ließ die verschlagene Diplomatie aller großen,
Cabinete bald ihre feinsten Künste spielen, bald ihre brutalsten Drohungen
vernehmen, um dem Rivalen den Rang abzulaufen. Dem Schwachen bot
man großmüthig Schutz an, die Stärkeren suchte man zu Bündnissen selbst¬
ständigeren Charakters zu verlocken. Unter diesen Umständen, bei der all¬
gemeinen Erschöpfung in einer Zeit, in der selbst ein abenteuernder Frei¬
beuter, der über 10,000 bis 20,000 Mann zu verfügen hatte, eine wenn nicht
Furcht, doch Achtung gebietende Macht war, vermochten auch kleine Fürsten
durch kluge Benutzung der Verhältnisse und durch eine kräftige Organisation
ihrer Wehrkraft weitgreifende Bedeutung und maßgebenden Einfluß aus den
Gang der europäischen Politik zu gewinnen. Der Einfluß der bis zur
höchsten Virtuosität ausgebildeten Diplomatie war in weit höherem Grade
als in der Gegenwart von der Macht der Staaten unabhängig, welche sie
vertrat. Ein energischer Dynast, der es verstand, seine Bundesgenossenschaft
geschickt zu verwerthen, konnte auch wohl den Gedanken fassen, auf eigene
Hand Großmachtspolitik zu treiben.

Neben Oestreich nahm in Deutschland Brandenburg entschieden die be¬
deutendste, aber auch die am meisten beargwohnte und bedrohte Stellung ein.


der Vormächte des Protestantismus zu fühlen; die Niederlande waren eine
ganz neue, kräftig aufblühende, von lebhaftestem Selbständigkeitstriebe er¬
füllte Schöpfung, die alle Kraft und Klugheit aufzubieten hatte, um zwischen
der offenen Feindschaft Spaniens, der freundschaftlichen Zudringlichkeit Frank¬
reichs, der Eifersucht Englands ihre Unabhängigkeit zu behaupten; Schweden
hatte in raschem Fluge eine Macht gewonnen, die es keineswegs als bloße
Chimäre erscheinen ließ, wenn seine genialen Fürsten und Staatsmänner den
Gedanken einer nordisch-protestantischen Universalmonarchie zu verwirklichen
strebten — und inmitten dieser Gewaltigen das deutsche Reich im Zustande
arger Zerrüttung und Auflösung. Die Fürsten hatten die erstrebte Libertät
erreicht, die Entwickelung der Territorialpolitik hatte einen mächtigen Fort¬
schritt gemacht. Aber einerseits die Bemühungen Oestreichs, die Lockerung
des Neichsverbandes zu einer Steigerung der Habsburgischen Hausmacht zu
benutzen, die Libertät also grade gegen die Stände zu kehren, und anderer¬
seits das Streben Frankreichs, sich den Ständen als Beschützer der Libertät
gegen die despotischen Entwürfe Oestreichs zu empfehlen und aufzudrängen,
zeigten, daß die gewonnene Unabhängigkeit, die nicht bloß das Verhältniß der
Glieder zu dem Haupte, sondern auch der Glieder unter einander gelockert
hatte, fürs Erste ein Gut von sehr zweifelhaftem Werthe sei.

Dieser Zustand der deutschen Verhältnisse bildet recht eigentlich den
Mittelpunkt der damaligen Weltpolitik. Deutschland war das Gebiet, auf
dem die drei großen Mächte Frankreich, Oestreich, Schweden sich auszubreiten
suchten; an den deuischen Höfen ließ die verschlagene Diplomatie aller großen,
Cabinete bald ihre feinsten Künste spielen, bald ihre brutalsten Drohungen
vernehmen, um dem Rivalen den Rang abzulaufen. Dem Schwachen bot
man großmüthig Schutz an, die Stärkeren suchte man zu Bündnissen selbst¬
ständigeren Charakters zu verlocken. Unter diesen Umständen, bei der all¬
gemeinen Erschöpfung in einer Zeit, in der selbst ein abenteuernder Frei¬
beuter, der über 10,000 bis 20,000 Mann zu verfügen hatte, eine wenn nicht
Furcht, doch Achtung gebietende Macht war, vermochten auch kleine Fürsten
durch kluge Benutzung der Verhältnisse und durch eine kräftige Organisation
ihrer Wehrkraft weitgreifende Bedeutung und maßgebenden Einfluß aus den
Gang der europäischen Politik zu gewinnen. Der Einfluß der bis zur
höchsten Virtuosität ausgebildeten Diplomatie war in weit höherem Grade
als in der Gegenwart von der Macht der Staaten unabhängig, welche sie
vertrat. Ein energischer Dynast, der es verstand, seine Bundesgenossenschaft
geschickt zu verwerthen, konnte auch wohl den Gedanken fassen, auf eigene
Hand Großmachtspolitik zu treiben.

Neben Oestreich nahm in Deutschland Brandenburg entschieden die be¬
deutendste, aber auch die am meisten beargwohnte und bedrohte Stellung ein.


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[0330] der Vormächte des Protestantismus zu fühlen; die Niederlande waren eine ganz neue, kräftig aufblühende, von lebhaftestem Selbständigkeitstriebe er¬ füllte Schöpfung, die alle Kraft und Klugheit aufzubieten hatte, um zwischen der offenen Feindschaft Spaniens, der freundschaftlichen Zudringlichkeit Frank¬ reichs, der Eifersucht Englands ihre Unabhängigkeit zu behaupten; Schweden hatte in raschem Fluge eine Macht gewonnen, die es keineswegs als bloße Chimäre erscheinen ließ, wenn seine genialen Fürsten und Staatsmänner den Gedanken einer nordisch-protestantischen Universalmonarchie zu verwirklichen strebten — und inmitten dieser Gewaltigen das deutsche Reich im Zustande arger Zerrüttung und Auflösung. Die Fürsten hatten die erstrebte Libertät erreicht, die Entwickelung der Territorialpolitik hatte einen mächtigen Fort¬ schritt gemacht. Aber einerseits die Bemühungen Oestreichs, die Lockerung des Neichsverbandes zu einer Steigerung der Habsburgischen Hausmacht zu benutzen, die Libertät also grade gegen die Stände zu kehren, und anderer¬ seits das Streben Frankreichs, sich den Ständen als Beschützer der Libertät gegen die despotischen Entwürfe Oestreichs zu empfehlen und aufzudrängen, zeigten, daß die gewonnene Unabhängigkeit, die nicht bloß das Verhältniß der Glieder zu dem Haupte, sondern auch der Glieder unter einander gelockert hatte, fürs Erste ein Gut von sehr zweifelhaftem Werthe sei. Dieser Zustand der deutschen Verhältnisse bildet recht eigentlich den Mittelpunkt der damaligen Weltpolitik. Deutschland war das Gebiet, auf dem die drei großen Mächte Frankreich, Oestreich, Schweden sich auszubreiten suchten; an den deuischen Höfen ließ die verschlagene Diplomatie aller großen, Cabinete bald ihre feinsten Künste spielen, bald ihre brutalsten Drohungen vernehmen, um dem Rivalen den Rang abzulaufen. Dem Schwachen bot man großmüthig Schutz an, die Stärkeren suchte man zu Bündnissen selbst¬ ständigeren Charakters zu verlocken. Unter diesen Umständen, bei der all¬ gemeinen Erschöpfung in einer Zeit, in der selbst ein abenteuernder Frei¬ beuter, der über 10,000 bis 20,000 Mann zu verfügen hatte, eine wenn nicht Furcht, doch Achtung gebietende Macht war, vermochten auch kleine Fürsten durch kluge Benutzung der Verhältnisse und durch eine kräftige Organisation ihrer Wehrkraft weitgreifende Bedeutung und maßgebenden Einfluß aus den Gang der europäischen Politik zu gewinnen. Der Einfluß der bis zur höchsten Virtuosität ausgebildeten Diplomatie war in weit höherem Grade als in der Gegenwart von der Macht der Staaten unabhängig, welche sie vertrat. Ein energischer Dynast, der es verstand, seine Bundesgenossenschaft geschickt zu verwerthen, konnte auch wohl den Gedanken fassen, auf eigene Hand Großmachtspolitik zu treiben. Neben Oestreich nahm in Deutschland Brandenburg entschieden die be¬ deutendste, aber auch die am meisten beargwohnte und bedrohte Stellung ein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/330>, abgerufen am 22.07.2024.