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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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bloß ein nach gleichartigen Gesetzesparagraphen sich normirendes, son¬
dern wirklich gleichartig sich gestaltendes, eine gleichartige Rechts¬
pflege sicherndes Proceßverfahren gegründet werden kann. Und gerade
dieses letztere, die Gleichartigkeit der Rechtspflege, wie sie sich
practisch gestaltet und von den Parteien innerhalb des gesamm-
ten Bundesgebiets als Bedürfniß empfunden wird, ist das Ziel,
welches der Bundesgesetzgebung gestellt ist. Sie würde sich dem wesentlichsten
Theil ihrer Aufgabe entziehen, wenn sie sich auf die Herstellung lediglich eines
einheitlichen Proceßcodex beschränken, im Uebrigen aber ruhig zusehen
wollte, wie je nach den verschiedenen in den einzelnen Territorien beliebten
Organisationen die practische Gestaltung der Rechtspflege in der verschieden¬
sten Weise sich entwickeln würde, in der verschiedensten Weise sich entwickeln
müßte, da ja für die practische Gestaltung der Rechtspflege die
Organisation und Competenz der Gerichte zum mindesten nicht
weniger entscheidend sind, als die für die Procedur maßgeben¬
den Normen.

Es mögen hier statt alles Weiteren nur zwei Punkte hervorgehoben
werden.

Das deutsche Handelsgesetzbuch setzt seiner ganzen Anlage nach besondere
zum Theil wenigstens aus kaufmännischen Beisitzern gebildete Handels¬
gerichte voraus. Schon Art. 1 verweist zur Ergänzung des Gesetzbuchs in
erster Linie auf die Handelsgebräuche, erst in zweiter auf das allge¬
meine bürgerliche Recht. Ebenso ist an zahlreichen Stellen und für practisch
sehr wichtige Fragen, für Fragen, von denen gewöhnlich der Ausgang des
ganzen Processes abhängt, Alles dem richterlichen Ermessen nach Maßgabe der
"im Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche" (Art. 279), des "Ord¬
nungsmäßigen" und "Rechtzeitigen" (Art. 319), des "ordnungsmäßigen Ge¬
schäftsgangs" (Art. 347) und tgi. überlassen. Daß bei der concreten Beurthei¬
lung solcher Dinge kaufmännische Intelligenz und Erfahrung viel
schwerer wiegen, als eine specifisch technisch-juristische Bildung, ist
doch wohl klar, und ebenso daß hierbei nicht mit einer bloßen Zuziehung von
Sachverständigen für den einzelnen Fall auszukommen ist, daß vielmehr diese
kaufmännische Intelligenz und Erfahrung in dem Gericht selbst (wenigstens
in der ersten Instanz, in welcher beim mündlichen Verfahren der Schwer¬
punkt der Entscheidung aller mehr concreten Fragen ruht) vertreten sein
muß. In Wahrheit ist denn auch da, wo Handelsgerichte bestehen, die
Rechtspflege auf diesem Gebiete eine gesundere, dem wirklichen Leben viel
näher stehende, als da, wo nur technisch gebildete Juristen zur Entscheidung
berufen sind. Wenigstens ist dies das Urtheil des Handelsstandes, der darüber
doch eigentlich allein Erfahrungen hat, und es wird bestätigt durch die ein-


Grenzboten III. 18K9. 38

bloß ein nach gleichartigen Gesetzesparagraphen sich normirendes, son¬
dern wirklich gleichartig sich gestaltendes, eine gleichartige Rechts¬
pflege sicherndes Proceßverfahren gegründet werden kann. Und gerade
dieses letztere, die Gleichartigkeit der Rechtspflege, wie sie sich
practisch gestaltet und von den Parteien innerhalb des gesamm-
ten Bundesgebiets als Bedürfniß empfunden wird, ist das Ziel,
welches der Bundesgesetzgebung gestellt ist. Sie würde sich dem wesentlichsten
Theil ihrer Aufgabe entziehen, wenn sie sich auf die Herstellung lediglich eines
einheitlichen Proceßcodex beschränken, im Uebrigen aber ruhig zusehen
wollte, wie je nach den verschiedenen in den einzelnen Territorien beliebten
Organisationen die practische Gestaltung der Rechtspflege in der verschieden¬
sten Weise sich entwickeln würde, in der verschiedensten Weise sich entwickeln
müßte, da ja für die practische Gestaltung der Rechtspflege die
Organisation und Competenz der Gerichte zum mindesten nicht
weniger entscheidend sind, als die für die Procedur maßgeben¬
den Normen.

Es mögen hier statt alles Weiteren nur zwei Punkte hervorgehoben
werden.

Das deutsche Handelsgesetzbuch setzt seiner ganzen Anlage nach besondere
zum Theil wenigstens aus kaufmännischen Beisitzern gebildete Handels¬
gerichte voraus. Schon Art. 1 verweist zur Ergänzung des Gesetzbuchs in
erster Linie auf die Handelsgebräuche, erst in zweiter auf das allge¬
meine bürgerliche Recht. Ebenso ist an zahlreichen Stellen und für practisch
sehr wichtige Fragen, für Fragen, von denen gewöhnlich der Ausgang des
ganzen Processes abhängt, Alles dem richterlichen Ermessen nach Maßgabe der
„im Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche" (Art. 279), des „Ord¬
nungsmäßigen" und „Rechtzeitigen" (Art. 319), des „ordnungsmäßigen Ge¬
schäftsgangs" (Art. 347) und tgi. überlassen. Daß bei der concreten Beurthei¬
lung solcher Dinge kaufmännische Intelligenz und Erfahrung viel
schwerer wiegen, als eine specifisch technisch-juristische Bildung, ist
doch wohl klar, und ebenso daß hierbei nicht mit einer bloßen Zuziehung von
Sachverständigen für den einzelnen Fall auszukommen ist, daß vielmehr diese
kaufmännische Intelligenz und Erfahrung in dem Gericht selbst (wenigstens
in der ersten Instanz, in welcher beim mündlichen Verfahren der Schwer¬
punkt der Entscheidung aller mehr concreten Fragen ruht) vertreten sein
muß. In Wahrheit ist denn auch da, wo Handelsgerichte bestehen, die
Rechtspflege auf diesem Gebiete eine gesundere, dem wirklichen Leben viel
näher stehende, als da, wo nur technisch gebildete Juristen zur Entscheidung
berufen sind. Wenigstens ist dies das Urtheil des Handelsstandes, der darüber
doch eigentlich allein Erfahrungen hat, und es wird bestätigt durch die ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/305>, abgerufen am 26.08.2024.