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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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"Hat das englische Volk Grund, es zu beklagen, daß die Königin Elisabeth
erhabenen Angedenkens als kinderlose Jungfrau gestorben ist?" und ich sage
Ihnen, Whigs und Tories begegneten einander als ritterliche Widersacher
Und mit einer Höflichkeit, die dem Herzen wohlthat. Brennender war später
die Frage: "Ist es wahrscheinlich, daß die Bekehrung des Sultans zum
Christenthum auf unsere Herrschaft in Indien und unsern Opiumhandel mit
China einen ungünstigen Einfluß üben würde?" Die Wogen der Debatte
gingen hoch, aber die Versammlung im Ganzen bewahrte ihre philosophische
Ruhe und saß da, ein Musterbild für die Völker des Continents. Indeß,
keine Perücke, kein Wollsack, kein Oberhaus, sondern unbedingtes Einkammer¬
system, Das Schicksal eines jeden Antrages wird durch einmalige Abstim¬
mung entschieden; radicale Abwesenheit aller herkömmlichen Vorsichtsriegel
und Hemmschuhe. In den Beschlüssen des Bierparlaments jagen sich daher
Revolution und Reaction mit überraschender Geschwindigkeit, und die Folgen
könnten verderblich werden. In dieser Gefahr hat die politische Erbweisheit
des Briten sich nicht verleugnet. Alle sieben Bierparlamente haben still¬
schweigend, aber feierlich auf das Recht verzichtet, die Minister ein- und ab¬
zusetzen. Se. Stephen's-in-the-East ging seinen Brüdern voran in dieser
That der Selbstverleugnung, durch welche der Nation Berge und Meere von
Gut und Blut erspart worden sind. -- Wohlgethan! sagte ich. Und Sie,
alter Knabe, spielen Sie auch noch mit in diesem großmächtigen Parlament? --
Rum, lächelte er, es gehört auch zu den Alterthümern Londons und zu
meinen Liebhabereien. Wir wollen überhaupt die Debattirclubs nicht
geringschätzen. Der Ernst, mit dem alte und junge Knaben durch
einander Parlamente spielen, mag komisch aussehen; aber am Ende ist's
eine nationale Leidenschaft. Unsern ehrbaren Kleinbürger entzückt eine
feine Redeblume mehr als den continentalen ein Operntriller. Junge Rede¬
künstler durch seinen Beifall aufzumuntern, ist ihm ein gutes Werk und Ver^
gnügen zugleich. Zudem wird in den Clubs gar nicht schlecht gesprochen.
Reben den verrückten Schwätzern erhebt sich oft ein kurzweiliger oder ge-
schndter, häufig auch irgend ein armer Teufel von einem Vielwisser. Dann
wird Alles, was auf unserem Planeten vorgeht, so genau wie in den Zei¬
tungen und noch umständlicher ausgemalt und gedeutet; dazu werden die
schönsten historisch-geographisch-diplomatischen Laternen aufgesteckt. Ah! da
lernt man was, denkt mehr als eins der stummen Mitglieder; denn -- lesen
können diese Leute nicht. -- Wie meinen Sie das, Mr. Mink? -- Ich meine,
daß sie einem eigentlichen Buche scheu aus dem Wege gehen. Und warum?
Weil sie vorsichtig und practisch sind. Sie spüren gar wohl, daß ein tüchtiges
Buch ein gefährliches Ding ist, indem es zum Denken verleitet, und sie haben
nicht Zeit zu denken. Daher ziehen sie immer ein lebendes Buch vor und


»Hat das englische Volk Grund, es zu beklagen, daß die Königin Elisabeth
erhabenen Angedenkens als kinderlose Jungfrau gestorben ist?" und ich sage
Ihnen, Whigs und Tories begegneten einander als ritterliche Widersacher
Und mit einer Höflichkeit, die dem Herzen wohlthat. Brennender war später
die Frage: „Ist es wahrscheinlich, daß die Bekehrung des Sultans zum
Christenthum auf unsere Herrschaft in Indien und unsern Opiumhandel mit
China einen ungünstigen Einfluß üben würde?" Die Wogen der Debatte
gingen hoch, aber die Versammlung im Ganzen bewahrte ihre philosophische
Ruhe und saß da, ein Musterbild für die Völker des Continents. Indeß,
keine Perücke, kein Wollsack, kein Oberhaus, sondern unbedingtes Einkammer¬
system, Das Schicksal eines jeden Antrages wird durch einmalige Abstim¬
mung entschieden; radicale Abwesenheit aller herkömmlichen Vorsichtsriegel
und Hemmschuhe. In den Beschlüssen des Bierparlaments jagen sich daher
Revolution und Reaction mit überraschender Geschwindigkeit, und die Folgen
könnten verderblich werden. In dieser Gefahr hat die politische Erbweisheit
des Briten sich nicht verleugnet. Alle sieben Bierparlamente haben still¬
schweigend, aber feierlich auf das Recht verzichtet, die Minister ein- und ab¬
zusetzen. Se. Stephen's-in-the-East ging seinen Brüdern voran in dieser
That der Selbstverleugnung, durch welche der Nation Berge und Meere von
Gut und Blut erspart worden sind. — Wohlgethan! sagte ich. Und Sie,
alter Knabe, spielen Sie auch noch mit in diesem großmächtigen Parlament? —
Rum, lächelte er, es gehört auch zu den Alterthümern Londons und zu
meinen Liebhabereien. Wir wollen überhaupt die Debattirclubs nicht
geringschätzen. Der Ernst, mit dem alte und junge Knaben durch
einander Parlamente spielen, mag komisch aussehen; aber am Ende ist's
eine nationale Leidenschaft. Unsern ehrbaren Kleinbürger entzückt eine
feine Redeblume mehr als den continentalen ein Operntriller. Junge Rede¬
künstler durch seinen Beifall aufzumuntern, ist ihm ein gutes Werk und Ver^
gnügen zugleich. Zudem wird in den Clubs gar nicht schlecht gesprochen.
Reben den verrückten Schwätzern erhebt sich oft ein kurzweiliger oder ge-
schndter, häufig auch irgend ein armer Teufel von einem Vielwisser. Dann
wird Alles, was auf unserem Planeten vorgeht, so genau wie in den Zei¬
tungen und noch umständlicher ausgemalt und gedeutet; dazu werden die
schönsten historisch-geographisch-diplomatischen Laternen aufgesteckt. Ah! da
lernt man was, denkt mehr als eins der stummen Mitglieder; denn — lesen
können diese Leute nicht. — Wie meinen Sie das, Mr. Mink? — Ich meine,
daß sie einem eigentlichen Buche scheu aus dem Wege gehen. Und warum?
Weil sie vorsichtig und practisch sind. Sie spüren gar wohl, daß ein tüchtiges
Buch ein gefährliches Ding ist, indem es zum Denken verleitet, und sie haben
nicht Zeit zu denken. Daher ziehen sie immer ein lebendes Buch vor und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/285>, abgerufen am 25.08.2024.