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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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wird nur gelegentlich durch einen Rippenstoß gemahnt, daß er nicht allein in
der City wandelt. Selbst auf jenem kleinen Platze, einem Hauptknotenpunkt
des Verkehrs, wo dem Palast des Lord Mayor quer gegenüber der eiserne
Herzog vor der Börse Schildwacht reitet und fensterlos die englische Bank
sich ausdehnt -- dies "Capitol des Capitals" nannte sie ein begeisterter Alder-
man -- sieht man während der todten Jahreszeit die Menge leicht und sicher
vorübergleiten. Freilich, wenn die Springfluth des Geschäfts mit der Höhe
der Saison zusammentrifft, -- ja, dann hört die Gemächlichkeit auf, dann
wird der Weg zwischen den Geldburgen zum Engpaß und darin braust ein
Gewühl, so gefährlich schier wie die Wogen im Canal. wenn der Wind scharf
von Nordosten bläst. Anfälle von Seekrankheit sind da nicht gebräuchlich,
aber Unfälle durch Roß und Wagen; auch bringen nervenschwache Besucher
von dem Getöse Kopfweh und Schwindel heim. Denn es kommt vor. daß
der irdische'Donner der City den himmlischen übertönt; das Auge sieht den
gezackten Blitz, während das Ohr taub oder der Himmel stumm scheint.
Wenn die Stimme aus den Wolken hier gehört werden will, muß sie die
Nacht abwarten oder den Sonntag.

Aber so hoch die Fluth der geschäftigen Menschen, so tief die Ebbe. Schon
Nachmittags beginnt allmälig der Rückgang und Tausende machen sich auf
die Heimreise, nach den äußersten Endpunkten der Metropole, nach den baum-
umrauschten Villen draußen oder bis ans Meer nach Brighton. Von Stunde
zu Stunde wird der Auszug massenhafter und mit der Dämmerung hebt
sich eine See von Menschen aus der City fort. Noch eine Weile, so haben
die Graubärte Ruhe und Frieden, mehr sogar, als manchem lieb ist, und im
Innern von Cockneyland findet man Gegenden so still und einsam, wie das
abgelegenste Dörfchen im vereinigten Königreich.

In Folge dieser Umstände ist auch der graue Hof nach und nach in ein sehr
bescheidenes Dunkel zurückgesunken. Allgemein gekannt ist er heutzutage nur
in der nächsten Nachbarschaft, das heißt in einem Umkreise, dessen Radius
dreimal so weit reicht als der Schatten des Kirchthums von Cripplegate an
einem Sommerabend fällt. Jenseit dieses Weichbildes ihn erfragen zu
wollen, ist vergebliche Mühe. Die Eingeborenen schütteln den Kopf; sie loben
Euch verschiedene rothe, weiße oder blaue Löwen, sie wissen manches grüne
Einhorn anzupreisen, aber vom wahren Löwen und Einhorn im Grauen
Hof, der das Sackgäßchen Little Mayfields abschließt, haben sie nur dumpf
etwas läuten hören. Und mein Freund, der sagen- und anekdotenkundige
Robert Mink, Esq., auch er gesteht, daß er lange bei seinen Besuchen Kreuz-
und Querfahrten machen und sich in gründliche Forschungen vertiefen mußte,
um den Weg von Neuem zu entdecken. Seiner Meinung nach liegt die
Schuld an der Atmosphäre. Denn ob auch in der City die Sonne scheint,


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wird nur gelegentlich durch einen Rippenstoß gemahnt, daß er nicht allein in
der City wandelt. Selbst auf jenem kleinen Platze, einem Hauptknotenpunkt
des Verkehrs, wo dem Palast des Lord Mayor quer gegenüber der eiserne
Herzog vor der Börse Schildwacht reitet und fensterlos die englische Bank
sich ausdehnt — dies „Capitol des Capitals" nannte sie ein begeisterter Alder-
man — sieht man während der todten Jahreszeit die Menge leicht und sicher
vorübergleiten. Freilich, wenn die Springfluth des Geschäfts mit der Höhe
der Saison zusammentrifft, — ja, dann hört die Gemächlichkeit auf, dann
wird der Weg zwischen den Geldburgen zum Engpaß und darin braust ein
Gewühl, so gefährlich schier wie die Wogen im Canal. wenn der Wind scharf
von Nordosten bläst. Anfälle von Seekrankheit sind da nicht gebräuchlich,
aber Unfälle durch Roß und Wagen; auch bringen nervenschwache Besucher
von dem Getöse Kopfweh und Schwindel heim. Denn es kommt vor. daß
der irdische'Donner der City den himmlischen übertönt; das Auge sieht den
gezackten Blitz, während das Ohr taub oder der Himmel stumm scheint.
Wenn die Stimme aus den Wolken hier gehört werden will, muß sie die
Nacht abwarten oder den Sonntag.

Aber so hoch die Fluth der geschäftigen Menschen, so tief die Ebbe. Schon
Nachmittags beginnt allmälig der Rückgang und Tausende machen sich auf
die Heimreise, nach den äußersten Endpunkten der Metropole, nach den baum-
umrauschten Villen draußen oder bis ans Meer nach Brighton. Von Stunde
zu Stunde wird der Auszug massenhafter und mit der Dämmerung hebt
sich eine See von Menschen aus der City fort. Noch eine Weile, so haben
die Graubärte Ruhe und Frieden, mehr sogar, als manchem lieb ist, und im
Innern von Cockneyland findet man Gegenden so still und einsam, wie das
abgelegenste Dörfchen im vereinigten Königreich.

In Folge dieser Umstände ist auch der graue Hof nach und nach in ein sehr
bescheidenes Dunkel zurückgesunken. Allgemein gekannt ist er heutzutage nur
in der nächsten Nachbarschaft, das heißt in einem Umkreise, dessen Radius
dreimal so weit reicht als der Schatten des Kirchthums von Cripplegate an
einem Sommerabend fällt. Jenseit dieses Weichbildes ihn erfragen zu
wollen, ist vergebliche Mühe. Die Eingeborenen schütteln den Kopf; sie loben
Euch verschiedene rothe, weiße oder blaue Löwen, sie wissen manches grüne
Einhorn anzupreisen, aber vom wahren Löwen und Einhorn im Grauen
Hof, der das Sackgäßchen Little Mayfields abschließt, haben sie nur dumpf
etwas läuten hören. Und mein Freund, der sagen- und anekdotenkundige
Robert Mink, Esq., auch er gesteht, daß er lange bei seinen Besuchen Kreuz-
und Querfahrten machen und sich in gründliche Forschungen vertiefen mußte,
um den Weg von Neuem zu entdecken. Seiner Meinung nach liegt die
Schuld an der Atmosphäre. Denn ob auch in der City die Sonne scheint,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/283>, abgerufen am 25.08.2024.