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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Volksbildung große Verdienste erworben hat und in den vordersten Reihen
stand, als es den Kampf gegen die Propaganda der griechischen Kirche galt.

Indessen auf dem politischen Gebiet der Vernichtungskrieg gegen
die westeuropäischen Elemente in den Grenzprovinzen nach wie vor auf
der russischen Tagesordnung steht, ist die Aufmerksamkeit weiterer Kreise
häuptsächlich auf die Ausbreitung des russischen Eisenbahnnetzes gerichtet.
Wöchentlich werden neue Concessionen ertheilt und das Vertrauen des Publi¬
kums in die neu zu bauenden Bahnen ist so groß, daß die Actien schon im
Voraus gezeichnet sind und zu den höchsten Preisen verkauft werden, ehe
irgend welche Erhebungen über die Rentabilität dieser Schienenwege gemacht
worden sind. Binnen der letzten fünf Jahre sind in Rußland mehr Eisen¬
bahnstrecken gebaut worden, als sonst in dreißig Jahren und noch immer
tauchen neue Unternehmer und neue Concessionsgesuche auf. Ausländer und
Inländer, Provinzialvertretungen und freie Genossenschaften suchen einander
nach Kräften Concurrenz zu machen. Die wichtigste der neuconcessionirten
Bahnen ist die Linie Kowno-Libau, welche die Bestimmung hat, den pol¬
nischen und westrussischen Export, der seinen Weg bisher nach Königsberg
und Memel nahm, in den genannten Kurländischen Hafen zu dirigiren. --
Natürlich hat der Schwindel mit der soliden Unternehmungslust Schritt ge¬
halten und schon seit längerer Zeit hört man über die Leichtfertigkeit der
Börsenspeculation und namentlich des Actienhandels in Petersburg klagen.
Um den Unwesen der Privatbörsen und künstlich gemachten Course abzu¬
helfen, hat die Regierung die Zahl der Tage, an denen officielle Cours-
notirungen an der Petersburger Börse vorgenommen werden, von drei aus
fünf in der Woche erhöht. -- Ueber den Kirgisenaufstand an der Grenze
Turkestans (den grundlose Gerüchte maaßlos übertrieben hatten), liegen neuere
Nachrichten nicht vor.

Während der Julimonat den meisten europäischen Staaten politische
und parlamentarische Ferien gebracht hat, sind die beiden Häuser der Volks¬
vertretung Englands vollauf mit der Discussion und endlichen Erledigung
der irischen Kirchenbill beschäftigt gewesen. Jede der Wendungen, welche
diese wichtige Angelegenheit" genommen, ist überraschend gewesen und hat die
Vorhersagungen der Tagespresse Lügen gestraft. Als die Gladstone'sche Bill
die zweite Lesung im Hause de'r Gemeinen passirt war, galt sie für bereits
gesichert, denn daß das Oberhaus eine große, von der Majorität der Nation
gewollte Maaßregel zurückgewiesen hätte, war seit einem Menschenalter nicht
mehr vorgekommen, nach Annahme der d'Jsraelischen Haushalterbill höchst un¬
wahrscheinlich geworden. Nach der ersten Lesung bei den Lords wandte das
Blatt sich aber, und ziemlich allgemein wurden eine Niederlage des Cabinets,
ein Conflict der beiden Häuser u. s. w. vorhergesagt. Die Nacht vom 18.


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Volksbildung große Verdienste erworben hat und in den vordersten Reihen
stand, als es den Kampf gegen die Propaganda der griechischen Kirche galt.

Indessen auf dem politischen Gebiet der Vernichtungskrieg gegen
die westeuropäischen Elemente in den Grenzprovinzen nach wie vor auf
der russischen Tagesordnung steht, ist die Aufmerksamkeit weiterer Kreise
häuptsächlich auf die Ausbreitung des russischen Eisenbahnnetzes gerichtet.
Wöchentlich werden neue Concessionen ertheilt und das Vertrauen des Publi¬
kums in die neu zu bauenden Bahnen ist so groß, daß die Actien schon im
Voraus gezeichnet sind und zu den höchsten Preisen verkauft werden, ehe
irgend welche Erhebungen über die Rentabilität dieser Schienenwege gemacht
worden sind. Binnen der letzten fünf Jahre sind in Rußland mehr Eisen¬
bahnstrecken gebaut worden, als sonst in dreißig Jahren und noch immer
tauchen neue Unternehmer und neue Concessionsgesuche auf. Ausländer und
Inländer, Provinzialvertretungen und freie Genossenschaften suchen einander
nach Kräften Concurrenz zu machen. Die wichtigste der neuconcessionirten
Bahnen ist die Linie Kowno-Libau, welche die Bestimmung hat, den pol¬
nischen und westrussischen Export, der seinen Weg bisher nach Königsberg
und Memel nahm, in den genannten Kurländischen Hafen zu dirigiren. —
Natürlich hat der Schwindel mit der soliden Unternehmungslust Schritt ge¬
halten und schon seit längerer Zeit hört man über die Leichtfertigkeit der
Börsenspeculation und namentlich des Actienhandels in Petersburg klagen.
Um den Unwesen der Privatbörsen und künstlich gemachten Course abzu¬
helfen, hat die Regierung die Zahl der Tage, an denen officielle Cours-
notirungen an der Petersburger Börse vorgenommen werden, von drei aus
fünf in der Woche erhöht. — Ueber den Kirgisenaufstand an der Grenze
Turkestans (den grundlose Gerüchte maaßlos übertrieben hatten), liegen neuere
Nachrichten nicht vor.

Während der Julimonat den meisten europäischen Staaten politische
und parlamentarische Ferien gebracht hat, sind die beiden Häuser der Volks¬
vertretung Englands vollauf mit der Discussion und endlichen Erledigung
der irischen Kirchenbill beschäftigt gewesen. Jede der Wendungen, welche
diese wichtige Angelegenheit" genommen, ist überraschend gewesen und hat die
Vorhersagungen der Tagespresse Lügen gestraft. Als die Gladstone'sche Bill
die zweite Lesung im Hause de'r Gemeinen passirt war, galt sie für bereits
gesichert, denn daß das Oberhaus eine große, von der Majorität der Nation
gewollte Maaßregel zurückgewiesen hätte, war seit einem Menschenalter nicht
mehr vorgekommen, nach Annahme der d'Jsraelischen Haushalterbill höchst un¬
wahrscheinlich geworden. Nach der ersten Lesung bei den Lords wandte das
Blatt sich aber, und ziemlich allgemein wurden eine Niederlage des Cabinets,
ein Conflict der beiden Häuser u. s. w. vorhergesagt. Die Nacht vom 18.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/179>, abgerufen am 05.02.2025.