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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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System des rein persönlichen Regiments gebrochen worden ist und daß der Kaiser
die Nothwendigkeit einer Annäherung an die Wünsche der liberalen Majorität
anerkannt hat. Darauf was im Einzelnen geschieht, kommt es zunächst noch
nicht an, die Hauptsache ist. daß das zweite Kaiserthum überhaupt den Cours
gewechselt und neuen Händen das Staatsruder anvertraut hat.

Die Wahl die der Kaiser getroffen, hat das Vertrauen zu der neuen
Wendung der französischen Dinge nicht gehoben. Die Ministerliste besteht
aus einer Anzahl bisheriger Bureauchefs und den Namen wenig populairer
Glieder der zur Tiers - Partei neigenden konservativen Schattirung. Be¬
fremdend ist zunächst die Ostentation, mit welcher der Kaiser ein völlig neues
Cabinet geschaffen: warum Lavalette dem Fürsten de la Tour d'Auvergne
Platz machen, statt Duruy's, ein untergeordneter Gesinnungsgenosse dieses
Unterrichtsministers eintreten mußte, ist um so weniger abzusehen, als Niet
im Amte blieb und von andern Gliedern des neuen Cabinets bekannt ist.
daß Nouher sie empfohlen hat. Es liegt der Verdacht nah. daß die fast voll¬
ständige Neubildung des Ministeriums ein auf die französische Nationaleitel¬
keit berechnetes Effectstück war, und daß das alte Cabinet nach dem Austritt
Rouher's im Grunde dieselbe Bedeutung gehabt hätte, wie diese neue Rathgeber¬
schaft des Kaisers. Weder Herr Leroux, noch der Unterrichtsminister Bourbeau,
weder Chasseloup-Laubat noch der hochbetagte Düvergier lassen irgend er¬
rathen, auf welches neue Ziel der Kaiser lossteuert und in wie weit er an
neue Mittel zur Befestigung seiner Regierung denkt. Nach wie vor herrscht
in dieser Beziehung Ungewißheit -- das Einzige, was man positiv weiß, ist,
daß die beliebten Verfassungsänderungen ernst genug gemeint sind, um nicht
in Rouher's Hände gelegt zu werden und daß der Kaiser den Ausfall der
letzten Wahlen für das Symptom einer veränderten Volksstimmung ansieht.

In Paris tröstet man sich damit, daß das neue Ministerium nur ein
Uebergangscabinet sei, dem ein liberaleres folgen werde. Als ob es mit dem
Mehr oder Minder von Liberalismus gethan wäre und als ob irgend ein
Grund zu der Annahme vorläge, daß der Kaiser weiter zu gehen Willens
sei, als er bereits gegangen! Wo ist der Mann, wo ist die Partei, von
der erwartet werden könnte, sie vermöge Frankreich aus der Rathlostgkeit zu
reißen, in welche dieses Land gerathen ist, nachdem es fast die ganze Speise¬
karte möglicher Staatsformen durchgekostet hat? Selbst am Vorabende ihres
Bankerotts kann die kaiserliche Regierung getrost fragen, wer unter den leben¬
den Politikern Frankreichs mit dem Volk, das nach der Revolution von 1848
sich selbst aufgegeben hatte, weiter gekommen wäre als sie, und so heillos
der gegenwärtige Zustand auch ist-- sie braucht die Antwort nicht zu scheuen.
Nicht darin besteht die Schwierigkeit, daß die Regierung nicht zu den Maa߬
regeln gebracht werden kann, von denen das Land seine politische Gesundung


System des rein persönlichen Regiments gebrochen worden ist und daß der Kaiser
die Nothwendigkeit einer Annäherung an die Wünsche der liberalen Majorität
anerkannt hat. Darauf was im Einzelnen geschieht, kommt es zunächst noch
nicht an, die Hauptsache ist. daß das zweite Kaiserthum überhaupt den Cours
gewechselt und neuen Händen das Staatsruder anvertraut hat.

Die Wahl die der Kaiser getroffen, hat das Vertrauen zu der neuen
Wendung der französischen Dinge nicht gehoben. Die Ministerliste besteht
aus einer Anzahl bisheriger Bureauchefs und den Namen wenig populairer
Glieder der zur Tiers - Partei neigenden konservativen Schattirung. Be¬
fremdend ist zunächst die Ostentation, mit welcher der Kaiser ein völlig neues
Cabinet geschaffen: warum Lavalette dem Fürsten de la Tour d'Auvergne
Platz machen, statt Duruy's, ein untergeordneter Gesinnungsgenosse dieses
Unterrichtsministers eintreten mußte, ist um so weniger abzusehen, als Niet
im Amte blieb und von andern Gliedern des neuen Cabinets bekannt ist.
daß Nouher sie empfohlen hat. Es liegt der Verdacht nah. daß die fast voll¬
ständige Neubildung des Ministeriums ein auf die französische Nationaleitel¬
keit berechnetes Effectstück war, und daß das alte Cabinet nach dem Austritt
Rouher's im Grunde dieselbe Bedeutung gehabt hätte, wie diese neue Rathgeber¬
schaft des Kaisers. Weder Herr Leroux, noch der Unterrichtsminister Bourbeau,
weder Chasseloup-Laubat noch der hochbetagte Düvergier lassen irgend er¬
rathen, auf welches neue Ziel der Kaiser lossteuert und in wie weit er an
neue Mittel zur Befestigung seiner Regierung denkt. Nach wie vor herrscht
in dieser Beziehung Ungewißheit — das Einzige, was man positiv weiß, ist,
daß die beliebten Verfassungsänderungen ernst genug gemeint sind, um nicht
in Rouher's Hände gelegt zu werden und daß der Kaiser den Ausfall der
letzten Wahlen für das Symptom einer veränderten Volksstimmung ansieht.

In Paris tröstet man sich damit, daß das neue Ministerium nur ein
Uebergangscabinet sei, dem ein liberaleres folgen werde. Als ob es mit dem
Mehr oder Minder von Liberalismus gethan wäre und als ob irgend ein
Grund zu der Annahme vorläge, daß der Kaiser weiter zu gehen Willens
sei, als er bereits gegangen! Wo ist der Mann, wo ist die Partei, von
der erwartet werden könnte, sie vermöge Frankreich aus der Rathlostgkeit zu
reißen, in welche dieses Land gerathen ist, nachdem es fast die ganze Speise¬
karte möglicher Staatsformen durchgekostet hat? Selbst am Vorabende ihres
Bankerotts kann die kaiserliche Regierung getrost fragen, wer unter den leben¬
den Politikern Frankreichs mit dem Volk, das nach der Revolution von 1848
sich selbst aufgegeben hatte, weiter gekommen wäre als sie, und so heillos
der gegenwärtige Zustand auch ist— sie braucht die Antwort nicht zu scheuen.
Nicht darin besteht die Schwierigkeit, daß die Regierung nicht zu den Maa߬
regeln gebracht werden kann, von denen das Land seine politische Gesundung


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[0172] System des rein persönlichen Regiments gebrochen worden ist und daß der Kaiser die Nothwendigkeit einer Annäherung an die Wünsche der liberalen Majorität anerkannt hat. Darauf was im Einzelnen geschieht, kommt es zunächst noch nicht an, die Hauptsache ist. daß das zweite Kaiserthum überhaupt den Cours gewechselt und neuen Händen das Staatsruder anvertraut hat. Die Wahl die der Kaiser getroffen, hat das Vertrauen zu der neuen Wendung der französischen Dinge nicht gehoben. Die Ministerliste besteht aus einer Anzahl bisheriger Bureauchefs und den Namen wenig populairer Glieder der zur Tiers - Partei neigenden konservativen Schattirung. Be¬ fremdend ist zunächst die Ostentation, mit welcher der Kaiser ein völlig neues Cabinet geschaffen: warum Lavalette dem Fürsten de la Tour d'Auvergne Platz machen, statt Duruy's, ein untergeordneter Gesinnungsgenosse dieses Unterrichtsministers eintreten mußte, ist um so weniger abzusehen, als Niet im Amte blieb und von andern Gliedern des neuen Cabinets bekannt ist. daß Nouher sie empfohlen hat. Es liegt der Verdacht nah. daß die fast voll¬ ständige Neubildung des Ministeriums ein auf die französische Nationaleitel¬ keit berechnetes Effectstück war, und daß das alte Cabinet nach dem Austritt Rouher's im Grunde dieselbe Bedeutung gehabt hätte, wie diese neue Rathgeber¬ schaft des Kaisers. Weder Herr Leroux, noch der Unterrichtsminister Bourbeau, weder Chasseloup-Laubat noch der hochbetagte Düvergier lassen irgend er¬ rathen, auf welches neue Ziel der Kaiser lossteuert und in wie weit er an neue Mittel zur Befestigung seiner Regierung denkt. Nach wie vor herrscht in dieser Beziehung Ungewißheit — das Einzige, was man positiv weiß, ist, daß die beliebten Verfassungsänderungen ernst genug gemeint sind, um nicht in Rouher's Hände gelegt zu werden und daß der Kaiser den Ausfall der letzten Wahlen für das Symptom einer veränderten Volksstimmung ansieht. In Paris tröstet man sich damit, daß das neue Ministerium nur ein Uebergangscabinet sei, dem ein liberaleres folgen werde. Als ob es mit dem Mehr oder Minder von Liberalismus gethan wäre und als ob irgend ein Grund zu der Annahme vorläge, daß der Kaiser weiter zu gehen Willens sei, als er bereits gegangen! Wo ist der Mann, wo ist die Partei, von der erwartet werden könnte, sie vermöge Frankreich aus der Rathlostgkeit zu reißen, in welche dieses Land gerathen ist, nachdem es fast die ganze Speise¬ karte möglicher Staatsformen durchgekostet hat? Selbst am Vorabende ihres Bankerotts kann die kaiserliche Regierung getrost fragen, wer unter den leben¬ den Politikern Frankreichs mit dem Volk, das nach der Revolution von 1848 sich selbst aufgegeben hatte, weiter gekommen wäre als sie, und so heillos der gegenwärtige Zustand auch ist— sie braucht die Antwort nicht zu scheuen. Nicht darin besteht die Schwierigkeit, daß die Regierung nicht zu den Maa߬ regeln gebracht werden kann, von denen das Land seine politische Gesundung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/172>, abgerufen am 25.08.2024.