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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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constituirt, noch sind die kaiserlichen Zugeständnisse nicht an den Senat ge¬
gangen, der diese Verfassungsänderungen begutachten und registriren soll. Noch
mühen Journale und parlamentarische Clubbs sich mit der Aufstellung mehr
oder minder unwahrscheinlicher Ministerlisten ab und schon steht eine neue'
Ueberraschung vor der Thür: das officielle Journal kündigt die Ver¬
tagung der Kammer so brüsk und so unerwartet an, daß nicht nur die
Opposition zu leidenschaftlichen Aeußerungen des Aergers und der Un¬
zufriedenheit gedrängt wird, sondern selbst hoch kaiserliche Arkadier aus
ihrer Verstimmung kein Hehl machen. Die fünfundfünfzig ungeprüft ge¬
bliebenen Mandate gehören meist den Gliedern dieser Partei an und der
Kaiser muß dieselben in sein Haus laden, um sie durch persönlichen Zuspruch
zu begütigen. Statt der Pause, die nach dieser athemlosen Hast gouverne-
mentaler Entschließungen von allen Seiten erwartet wird, erfolgt endlich die
Bildung des neuen Cabinets! Und dabei sind die zahlreichen Zwischenfälle
und Episoden, welche auf kaiserliche Berathungen mit Staatsmännern der einen
und der anderen Richtung kommen, nicht einmal mitgezählt.

Die widerspruchsvollen Maaßregeln der Regierung sind einander so rasch
gefolgt, daß Urtheile über ihr Facit bis jetzt noch nicht gefällt worden sind,
ja eigentlich auch nicht gefällt werden konnten. Der alte Thiers hatte ganz
Recht, wenn er behauptete, die Situation in den Tuilerien habe sich alle
zwei Stunden verändert und eine Nachricht über die Lage, wie sie morgens
um zehn Uhr gewesen, sei um zwölf Uhr veraltet, um zwei Uhr Nach¬
mittags bereits vergessen. Gegenwärtig steht die Zusammensetzung des neuen
Cabinets im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit und in der That
ist sie geeigneter zals alles Uebrige, um die Stellung der Regierung zu
charakterisiren.

Die kaiserliche Botschaft verleiht der Volksvertretung eine Reihe neuer
Rechte, deren relativer Werth von allen Seiten und namentlich von der eng¬
lischen Presse anerkannt worden ist. In Frankreich hat man das Haupt¬
gewicht auf die Bestimmung gelegt, welche die Vereinbarkeit des Minister¬
postens mit der parlamentarischen Thätigkeit ausspricht und von der man
auf die Wahrscheinlichkeit oder doch Möglichkeit eines constitutionellen Ma¬
joritätenregiments schloß. Wir lassen ununtersucht, ob und in wie weit ein
solches für Frankreich heilsam wäre -- daß der Kaiser daran noch nicht gedacht
hat. ist zweifellos. Die Spannung, mit der die Franzosen der Bildung des
neuen Cabinets entgegensahen, beweist sogar, daß sie selbst sehr genau wußten,
die Ministerliste werde nicht aus der Majorität, sondern aus der kaiserlichen
Willkür hervorgehen. Steht die Sache doch überhaupt so, daß die Bedeutung der
gegenwärtigen Krisis, nicht sowohl darin besteht, ob und in wie weit das neue
System einen constitutionellen Charakter erhält, sondern darin, daß mit dem alten


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constituirt, noch sind die kaiserlichen Zugeständnisse nicht an den Senat ge¬
gangen, der diese Verfassungsänderungen begutachten und registriren soll. Noch
mühen Journale und parlamentarische Clubbs sich mit der Aufstellung mehr
oder minder unwahrscheinlicher Ministerlisten ab und schon steht eine neue'
Ueberraschung vor der Thür: das officielle Journal kündigt die Ver¬
tagung der Kammer so brüsk und so unerwartet an, daß nicht nur die
Opposition zu leidenschaftlichen Aeußerungen des Aergers und der Un¬
zufriedenheit gedrängt wird, sondern selbst hoch kaiserliche Arkadier aus
ihrer Verstimmung kein Hehl machen. Die fünfundfünfzig ungeprüft ge¬
bliebenen Mandate gehören meist den Gliedern dieser Partei an und der
Kaiser muß dieselben in sein Haus laden, um sie durch persönlichen Zuspruch
zu begütigen. Statt der Pause, die nach dieser athemlosen Hast gouverne-
mentaler Entschließungen von allen Seiten erwartet wird, erfolgt endlich die
Bildung des neuen Cabinets! Und dabei sind die zahlreichen Zwischenfälle
und Episoden, welche auf kaiserliche Berathungen mit Staatsmännern der einen
und der anderen Richtung kommen, nicht einmal mitgezählt.

Die widerspruchsvollen Maaßregeln der Regierung sind einander so rasch
gefolgt, daß Urtheile über ihr Facit bis jetzt noch nicht gefällt worden sind,
ja eigentlich auch nicht gefällt werden konnten. Der alte Thiers hatte ganz
Recht, wenn er behauptete, die Situation in den Tuilerien habe sich alle
zwei Stunden verändert und eine Nachricht über die Lage, wie sie morgens
um zehn Uhr gewesen, sei um zwölf Uhr veraltet, um zwei Uhr Nach¬
mittags bereits vergessen. Gegenwärtig steht die Zusammensetzung des neuen
Cabinets im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit und in der That
ist sie geeigneter zals alles Uebrige, um die Stellung der Regierung zu
charakterisiren.

Die kaiserliche Botschaft verleiht der Volksvertretung eine Reihe neuer
Rechte, deren relativer Werth von allen Seiten und namentlich von der eng¬
lischen Presse anerkannt worden ist. In Frankreich hat man das Haupt¬
gewicht auf die Bestimmung gelegt, welche die Vereinbarkeit des Minister¬
postens mit der parlamentarischen Thätigkeit ausspricht und von der man
auf die Wahrscheinlichkeit oder doch Möglichkeit eines constitutionellen Ma¬
joritätenregiments schloß. Wir lassen ununtersucht, ob und in wie weit ein
solches für Frankreich heilsam wäre — daß der Kaiser daran noch nicht gedacht
hat. ist zweifellos. Die Spannung, mit der die Franzosen der Bildung des
neuen Cabinets entgegensahen, beweist sogar, daß sie selbst sehr genau wußten,
die Ministerliste werde nicht aus der Majorität, sondern aus der kaiserlichen
Willkür hervorgehen. Steht die Sache doch überhaupt so, daß die Bedeutung der
gegenwärtigen Krisis, nicht sowohl darin besteht, ob und in wie weit das neue
System einen constitutionellen Charakter erhält, sondern darin, daß mit dem alten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/171>, abgerufen am 24.08.2024.