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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Haupt die Tragweite der über sie ergangenen Veränderungen völlig erkannt
hätten. Man kann die Zukunft ruhig abwarten. Binnen kurzer Zeit wird
Kiel als Hauptkriegshafen der Ostsee einen völlig entsprechenden Charakter
erhalten haben. Eine Stadt, die zum Schutz der Marineanlagen in eine
Festung ersten Ranges umgewandelt werden wird, darf eine Hochschule mit
ihren kostbaren Baulichkeiten, Sammlungen an Büchern und Instrumenten.
Kunstsachen, naturwissenschaftlichen und archäologischen Seltenheiten nicht be¬
herbergen. Der Apparat einer Universität, an dem der Fleiß und die wissen¬
schaftliche Tüchtigkeit vieler Generationen geschaffen haben, ist ein nationales
Gut, das der Gefahr kriegerischer Zerstörung überall nicht auszusetzen ist.

Der Rückgang der Kieler Universität ist eine so oft besprochene That¬
sache, daß wir uns ausführlicher Bemerkungen darüber enthalten dürfen; es
ist bekannt, daß die Zahl der Studirenden seit dem Winter 1866 um ca. 90
abgenommen und sich auf ISO--160 reducirt hat. Die Verluste treffen
die juristische, medicinische und die philosophische Facultät; auch das laufende
Halbjahr zeigt eine Abnahme gegen das vorige. Die oft versuchte und auch
in der Universitätschronik für 1868 wiederholte Erklärung, daß die schleswig¬
holsteinische Jugend durch die Ordnung des Justizwesens auf preußischem
Fuße von dem Nechtsstudium abgeschreckt worden sei. ist irrthümlich. Die
verhältnißmäßig starke Zahl der Juristen (82) am Ende des Jahres 1866
beruhte darauf, daß eine große Anzahl älterer Rechtsbcflissener in Kiel ver¬
weilte, um der Vorzüge des seitdem aufgehobenen einzigen Amtsexamens noch
theilhaft zu werten. Im Jahre 1867 sind nicht weniger als 40 Juristen in
diesem Examen geprüft worden; die damalige größere Frequenz der Juristen ist
also den abnormen Verhältnissen des staatlichen Uebergangszustandes zuzuschrei¬
ben. Ebenso lockten schon im Jahre 1866 die wechselvolle politische Lage der
Herzogtümer und ein daran sich knüpfendes beschleunigtes und chancenreiches
Avancement viele ältere Juristen nach Kiel. Dazu war die Anziehungskraft
des herzoglichen Hofes und die mannigfachen hieran sich schließenden In¬
teressen nicht ohne fühlbaren Einfluß auf den allgemeinen Besuch der Uni¬
versität.

Die Aushebung des sogenannten Bienniums. der Verpflichtung studiren-
der Landeekinder zum zweijährigen Besuche Kiels, war ein Schlag, von wel¬
chem die Universität sich nicht erholen wird. Dies um so weniger, als die
eingeborenen Juristen, Mediciner und Schulamtscandidaten nicht mehr an
ein nur in Kiel abzulegendes Examen gebunden sind, sondern unter den Prü¬
fungsbehörden der Monarchie wählen können. Seitdem wandert unsere aca-
demische Jugend mit Vorliebe anderen Universitäten zu. Die Beseitigung
jener Beschränkungen war eine selbstverständliche Consequenz der Union
Schleswig-Holsteins mit den älteren Provinzen; der Staatsregierung ist


Haupt die Tragweite der über sie ergangenen Veränderungen völlig erkannt
hätten. Man kann die Zukunft ruhig abwarten. Binnen kurzer Zeit wird
Kiel als Hauptkriegshafen der Ostsee einen völlig entsprechenden Charakter
erhalten haben. Eine Stadt, die zum Schutz der Marineanlagen in eine
Festung ersten Ranges umgewandelt werden wird, darf eine Hochschule mit
ihren kostbaren Baulichkeiten, Sammlungen an Büchern und Instrumenten.
Kunstsachen, naturwissenschaftlichen und archäologischen Seltenheiten nicht be¬
herbergen. Der Apparat einer Universität, an dem der Fleiß und die wissen¬
schaftliche Tüchtigkeit vieler Generationen geschaffen haben, ist ein nationales
Gut, das der Gefahr kriegerischer Zerstörung überall nicht auszusetzen ist.

Der Rückgang der Kieler Universität ist eine so oft besprochene That¬
sache, daß wir uns ausführlicher Bemerkungen darüber enthalten dürfen; es
ist bekannt, daß die Zahl der Studirenden seit dem Winter 1866 um ca. 90
abgenommen und sich auf ISO—160 reducirt hat. Die Verluste treffen
die juristische, medicinische und die philosophische Facultät; auch das laufende
Halbjahr zeigt eine Abnahme gegen das vorige. Die oft versuchte und auch
in der Universitätschronik für 1868 wiederholte Erklärung, daß die schleswig¬
holsteinische Jugend durch die Ordnung des Justizwesens auf preußischem
Fuße von dem Nechtsstudium abgeschreckt worden sei. ist irrthümlich. Die
verhältnißmäßig starke Zahl der Juristen (82) am Ende des Jahres 1866
beruhte darauf, daß eine große Anzahl älterer Rechtsbcflissener in Kiel ver¬
weilte, um der Vorzüge des seitdem aufgehobenen einzigen Amtsexamens noch
theilhaft zu werten. Im Jahre 1867 sind nicht weniger als 40 Juristen in
diesem Examen geprüft worden; die damalige größere Frequenz der Juristen ist
also den abnormen Verhältnissen des staatlichen Uebergangszustandes zuzuschrei¬
ben. Ebenso lockten schon im Jahre 1866 die wechselvolle politische Lage der
Herzogtümer und ein daran sich knüpfendes beschleunigtes und chancenreiches
Avancement viele ältere Juristen nach Kiel. Dazu war die Anziehungskraft
des herzoglichen Hofes und die mannigfachen hieran sich schließenden In¬
teressen nicht ohne fühlbaren Einfluß auf den allgemeinen Besuch der Uni¬
versität.

Die Aushebung des sogenannten Bienniums. der Verpflichtung studiren-
der Landeekinder zum zweijährigen Besuche Kiels, war ein Schlag, von wel¬
chem die Universität sich nicht erholen wird. Dies um so weniger, als die
eingeborenen Juristen, Mediciner und Schulamtscandidaten nicht mehr an
ein nur in Kiel abzulegendes Examen gebunden sind, sondern unter den Prü¬
fungsbehörden der Monarchie wählen können. Seitdem wandert unsere aca-
demische Jugend mit Vorliebe anderen Universitäten zu. Die Beseitigung
jener Beschränkungen war eine selbstverständliche Consequenz der Union
Schleswig-Holsteins mit den älteren Provinzen; der Staatsregierung ist


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[0148] Haupt die Tragweite der über sie ergangenen Veränderungen völlig erkannt hätten. Man kann die Zukunft ruhig abwarten. Binnen kurzer Zeit wird Kiel als Hauptkriegshafen der Ostsee einen völlig entsprechenden Charakter erhalten haben. Eine Stadt, die zum Schutz der Marineanlagen in eine Festung ersten Ranges umgewandelt werden wird, darf eine Hochschule mit ihren kostbaren Baulichkeiten, Sammlungen an Büchern und Instrumenten. Kunstsachen, naturwissenschaftlichen und archäologischen Seltenheiten nicht be¬ herbergen. Der Apparat einer Universität, an dem der Fleiß und die wissen¬ schaftliche Tüchtigkeit vieler Generationen geschaffen haben, ist ein nationales Gut, das der Gefahr kriegerischer Zerstörung überall nicht auszusetzen ist. Der Rückgang der Kieler Universität ist eine so oft besprochene That¬ sache, daß wir uns ausführlicher Bemerkungen darüber enthalten dürfen; es ist bekannt, daß die Zahl der Studirenden seit dem Winter 1866 um ca. 90 abgenommen und sich auf ISO—160 reducirt hat. Die Verluste treffen die juristische, medicinische und die philosophische Facultät; auch das laufende Halbjahr zeigt eine Abnahme gegen das vorige. Die oft versuchte und auch in der Universitätschronik für 1868 wiederholte Erklärung, daß die schleswig¬ holsteinische Jugend durch die Ordnung des Justizwesens auf preußischem Fuße von dem Nechtsstudium abgeschreckt worden sei. ist irrthümlich. Die verhältnißmäßig starke Zahl der Juristen (82) am Ende des Jahres 1866 beruhte darauf, daß eine große Anzahl älterer Rechtsbcflissener in Kiel ver¬ weilte, um der Vorzüge des seitdem aufgehobenen einzigen Amtsexamens noch theilhaft zu werten. Im Jahre 1867 sind nicht weniger als 40 Juristen in diesem Examen geprüft worden; die damalige größere Frequenz der Juristen ist also den abnormen Verhältnissen des staatlichen Uebergangszustandes zuzuschrei¬ ben. Ebenso lockten schon im Jahre 1866 die wechselvolle politische Lage der Herzogtümer und ein daran sich knüpfendes beschleunigtes und chancenreiches Avancement viele ältere Juristen nach Kiel. Dazu war die Anziehungskraft des herzoglichen Hofes und die mannigfachen hieran sich schließenden In¬ teressen nicht ohne fühlbaren Einfluß auf den allgemeinen Besuch der Uni¬ versität. Die Aushebung des sogenannten Bienniums. der Verpflichtung studiren- der Landeekinder zum zweijährigen Besuche Kiels, war ein Schlag, von wel¬ chem die Universität sich nicht erholen wird. Dies um so weniger, als die eingeborenen Juristen, Mediciner und Schulamtscandidaten nicht mehr an ein nur in Kiel abzulegendes Examen gebunden sind, sondern unter den Prü¬ fungsbehörden der Monarchie wählen können. Seitdem wandert unsere aca- demische Jugend mit Vorliebe anderen Universitäten zu. Die Beseitigung jener Beschränkungen war eine selbstverständliche Consequenz der Union Schleswig-Holsteins mit den älteren Provinzen; der Staatsregierung ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/148>, abgerufen am 22.07.2024.