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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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kratie oder Volksherrschaft! Allmälig verbreitet sich dann mit Nothwendig¬
keit jene Enttäuschung, welche fast regelmäßig periodisch wiederkehrt. Nun
tritt die einzige Seite hervor, wo die Volkssouverainetät eine Wahrheit ist:
das Volk kann seine Verfassung revidiren. Aber selbst hier stoßen wir auf
die Übeln Folgen des Princips: einerseits hat das Volk während der Jahre
seiner Unthätigkeit an politischem Sinn und Energie verloren, es fühlt das
Uebel, vermag aber nicht das Heilmittel dagegen zu entdecken oder es an¬
zuwenden. Andererseits verlangt man oft eine Revision, nur um sich der
bisherigen Vertreter zu entledigen. Aus Schaam, den wahren Grund anzu¬
geben, betritt man den Umweg, einzelne Verfassungsänderungen vorzuschlagen,
die entweder unreif oder unnöthig oder geradezu gefährlich sind. So war
es bei der letzten Revision in der Waadt, so in Zürich.

Schon dies wäre schlimm genug; aber noch mehr: bei einer Revision
bedürfen die Volksführer des Beistandes der Massen und so lange sie dieser
nicht ganz sicher sind, sehen sie sich genöthigt, durch Concessionen von oft
zweifelhaftem Werthe einzelne Gruppen zu gewinnen, die dann zusammen eine
Mehrheit bilden. Dies geschah bei mehreren unserer Revisionen, am auf¬
fallendsten in Bern 1846. Der rechte Name dafür ist politische Bestechung:
die Bürger werden verführt, gewisse Dinge anzunehmen, die sie verworfen
haben, nur um andere zu erlangen, die sie herbeiwünschen. Dadurch wer¬
den aber die Revisionen nur immer gefährlicher und schädlicher. Auch Re¬
ferendum, Veto u. s. w. vermögen den häufigen Verfassungsrevisionen kein
Ende zu machen, wie oft sie auch zu diesem Zwecke empfohlen werden;
denn sie geben dem Volke keine wirksame Macht über seine Regierung. Man
wird auch dann wieder die Menschen ändern wollen und zu diesem Zwecke
Revision verlangen.

Aber wie die Sache besser machen? Die vorgeschlagene Wahl der gesetz.
gebenden Räthe auf unbestimmte ,Dauer, wobei sie zugleich zu jeder Zeit
abberufen werden können, und die Vertretung der Minderheiten enthalten
Keime einer radicalen Reform, die viel weiter geht, als es auf den ersten
Blick den Anschein hat. Herr Hilty meint zwar, das Prinzip der Abberufung
würde nur zum System der konstitutionellen Monarchie führen. Dies ist
aber nicht richtig und es handelt sich vielmehr nur darum, ob diese Einrichtung
unsern republikanischen Institutionen angepaßt werden kann und ob sie gute
Früchte zu tragen vermag. Erläuternd gibt Tallichet zu diesem Punkte ein Bild
des constitutionellen Lebens, wie es seit der Regierung der Königin Victoria in
England sich ausgebildet hat. Das Königthum, sagt er, hat dort aufgehört, ein
unentbehrliches Element zu sein. Es dient zwar vortrefflich zum Zwecke der
sogenannten Repräsentation, aber je aufgeklärter und politisch gebildeter
ein Volk ist, desto weniger bedarf es einer solchen sichtbaren Verkörperung


kratie oder Volksherrschaft! Allmälig verbreitet sich dann mit Nothwendig¬
keit jene Enttäuschung, welche fast regelmäßig periodisch wiederkehrt. Nun
tritt die einzige Seite hervor, wo die Volkssouverainetät eine Wahrheit ist:
das Volk kann seine Verfassung revidiren. Aber selbst hier stoßen wir auf
die Übeln Folgen des Princips: einerseits hat das Volk während der Jahre
seiner Unthätigkeit an politischem Sinn und Energie verloren, es fühlt das
Uebel, vermag aber nicht das Heilmittel dagegen zu entdecken oder es an¬
zuwenden. Andererseits verlangt man oft eine Revision, nur um sich der
bisherigen Vertreter zu entledigen. Aus Schaam, den wahren Grund anzu¬
geben, betritt man den Umweg, einzelne Verfassungsänderungen vorzuschlagen,
die entweder unreif oder unnöthig oder geradezu gefährlich sind. So war
es bei der letzten Revision in der Waadt, so in Zürich.

Schon dies wäre schlimm genug; aber noch mehr: bei einer Revision
bedürfen die Volksführer des Beistandes der Massen und so lange sie dieser
nicht ganz sicher sind, sehen sie sich genöthigt, durch Concessionen von oft
zweifelhaftem Werthe einzelne Gruppen zu gewinnen, die dann zusammen eine
Mehrheit bilden. Dies geschah bei mehreren unserer Revisionen, am auf¬
fallendsten in Bern 1846. Der rechte Name dafür ist politische Bestechung:
die Bürger werden verführt, gewisse Dinge anzunehmen, die sie verworfen
haben, nur um andere zu erlangen, die sie herbeiwünschen. Dadurch wer¬
den aber die Revisionen nur immer gefährlicher und schädlicher. Auch Re¬
ferendum, Veto u. s. w. vermögen den häufigen Verfassungsrevisionen kein
Ende zu machen, wie oft sie auch zu diesem Zwecke empfohlen werden;
denn sie geben dem Volke keine wirksame Macht über seine Regierung. Man
wird auch dann wieder die Menschen ändern wollen und zu diesem Zwecke
Revision verlangen.

Aber wie die Sache besser machen? Die vorgeschlagene Wahl der gesetz.
gebenden Räthe auf unbestimmte ,Dauer, wobei sie zugleich zu jeder Zeit
abberufen werden können, und die Vertretung der Minderheiten enthalten
Keime einer radicalen Reform, die viel weiter geht, als es auf den ersten
Blick den Anschein hat. Herr Hilty meint zwar, das Prinzip der Abberufung
würde nur zum System der konstitutionellen Monarchie führen. Dies ist
aber nicht richtig und es handelt sich vielmehr nur darum, ob diese Einrichtung
unsern republikanischen Institutionen angepaßt werden kann und ob sie gute
Früchte zu tragen vermag. Erläuternd gibt Tallichet zu diesem Punkte ein Bild
des constitutionellen Lebens, wie es seit der Regierung der Königin Victoria in
England sich ausgebildet hat. Das Königthum, sagt er, hat dort aufgehört, ein
unentbehrliches Element zu sein. Es dient zwar vortrefflich zum Zwecke der
sogenannten Repräsentation, aber je aufgeklärter und politisch gebildeter
ein Volk ist, desto weniger bedarf es einer solchen sichtbaren Verkörperung


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[0141] kratie oder Volksherrschaft! Allmälig verbreitet sich dann mit Nothwendig¬ keit jene Enttäuschung, welche fast regelmäßig periodisch wiederkehrt. Nun tritt die einzige Seite hervor, wo die Volkssouverainetät eine Wahrheit ist: das Volk kann seine Verfassung revidiren. Aber selbst hier stoßen wir auf die Übeln Folgen des Princips: einerseits hat das Volk während der Jahre seiner Unthätigkeit an politischem Sinn und Energie verloren, es fühlt das Uebel, vermag aber nicht das Heilmittel dagegen zu entdecken oder es an¬ zuwenden. Andererseits verlangt man oft eine Revision, nur um sich der bisherigen Vertreter zu entledigen. Aus Schaam, den wahren Grund anzu¬ geben, betritt man den Umweg, einzelne Verfassungsänderungen vorzuschlagen, die entweder unreif oder unnöthig oder geradezu gefährlich sind. So war es bei der letzten Revision in der Waadt, so in Zürich. Schon dies wäre schlimm genug; aber noch mehr: bei einer Revision bedürfen die Volksführer des Beistandes der Massen und so lange sie dieser nicht ganz sicher sind, sehen sie sich genöthigt, durch Concessionen von oft zweifelhaftem Werthe einzelne Gruppen zu gewinnen, die dann zusammen eine Mehrheit bilden. Dies geschah bei mehreren unserer Revisionen, am auf¬ fallendsten in Bern 1846. Der rechte Name dafür ist politische Bestechung: die Bürger werden verführt, gewisse Dinge anzunehmen, die sie verworfen haben, nur um andere zu erlangen, die sie herbeiwünschen. Dadurch wer¬ den aber die Revisionen nur immer gefährlicher und schädlicher. Auch Re¬ ferendum, Veto u. s. w. vermögen den häufigen Verfassungsrevisionen kein Ende zu machen, wie oft sie auch zu diesem Zwecke empfohlen werden; denn sie geben dem Volke keine wirksame Macht über seine Regierung. Man wird auch dann wieder die Menschen ändern wollen und zu diesem Zwecke Revision verlangen. Aber wie die Sache besser machen? Die vorgeschlagene Wahl der gesetz. gebenden Räthe auf unbestimmte ,Dauer, wobei sie zugleich zu jeder Zeit abberufen werden können, und die Vertretung der Minderheiten enthalten Keime einer radicalen Reform, die viel weiter geht, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Herr Hilty meint zwar, das Prinzip der Abberufung würde nur zum System der konstitutionellen Monarchie führen. Dies ist aber nicht richtig und es handelt sich vielmehr nur darum, ob diese Einrichtung unsern republikanischen Institutionen angepaßt werden kann und ob sie gute Früchte zu tragen vermag. Erläuternd gibt Tallichet zu diesem Punkte ein Bild des constitutionellen Lebens, wie es seit der Regierung der Königin Victoria in England sich ausgebildet hat. Das Königthum, sagt er, hat dort aufgehört, ein unentbehrliches Element zu sein. Es dient zwar vortrefflich zum Zwecke der sogenannten Repräsentation, aber je aufgeklärter und politisch gebildeter ein Volk ist, desto weniger bedarf es einer solchen sichtbaren Verkörperung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/141>, abgerufen am 24.08.2024.