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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Mit bewunderungswürdiger Selbstlosigkeit verzichten die Verfasser auf
alle Reize, welche den Eindruck des streng sachlichen Urtheiles stören könnten.
Niemals tritt persönliche Vorliebe oder Abneigung in den Vordergrund, bei
gleich warmem Interesse für alle Künstler niemals eine leidenschaftliche Em¬
pfindung. Als Ausgangspunkt gilt ihnen stets die genaue technische Be¬
schreibung der vorhandenen Werke. Mit anatomischer Schärfe wird.die Zeich¬
nung, die Form der Einzelgestalt, die Weise der Gruppirung, die Farben¬
gebung untersucht, auf dieser Grundlage das Bild und der Meister sorg¬
fältig charakterisirt. Diese Methode, in der classischen Archäologie bekannt¬
lich schon eingebürgert, in der Kunstgeschichte des Mittelalters noch häufig
vermißt, gestattet allein eine vollkommene Sicherheit des Urtheils, gibt
namentlich einen sicheren Anhalt, die Herkunft der einzelnen Werke zu be¬
stimmen. Sie hat sich auch bei Crowe und Cavalcaselle bewährt. Die bessere
Gliederung der Schule Giotto's und die Schilderung dieses Meisters selbst
-- die Glanzseite des vorliegenden Bandes -- bleibt denselben zu verdanken,
ebenso wäre es auf einem anderen Wege kaum möglich gewesen, in die
Wandgemälde des Pisaner of.mxo Santo Klarheit und Ordnung zu bringen.

Der unmittelbare Gegenstand des "neuen Vasari" ist zunächst die italieni¬
sche Malerei, doch haben die Verfasser, wie bei ihrer Umsicht und Gründlich¬
keit nicht anders zu erwarten war, auch die Plastik in Betracht genommen.
Nach einem kurzen Ueberblick der altchristlichen Malerei, die für den gegebe¬
nen Zweck ausführlich genug erscheint, da die altchristliche Malerei ungleich
näher mit dem classischen Alterthum als mit dem späteren Mittelalter zu¬
sammenhängt, und nach einer kritischen Erörterung der Reste frühmittelalter¬
licher Kunst behandeln die Verfasser die vielfach räthselhafte Sippe der römi¬
schen Cosmaten und die scheinbar plötzliche Erneuerung der italienischen
Kunst durch Niccola Pisano. "Woher kam diese erstaunliche Erscheinung?"
fragen die Verfasser. "Man fühlt sich an Michel Angelo gemahnt und könnte
glauben, daß auch Niccola, einzig in seiner Art und Zeit, wie er war, als ein
schöpferischer Genius anzusehen sei, der mit einem Male die Kunst in Pisa
umgestaltete. Aber selbst Michel Angelo's Werke in all ihrer Hoheit athmen
doch die gleiche Lebensluft mit denen des Ghirlandajo und Donatello. Sind
alle früheren Leistungen, die seine künstlerische Abkunft verdeutlichen könnten,
verschwunden?" Mit Recht verwerfen Crowe und Cavalcaselle die Ableitung
des neuen Stils von dem Studium eines vereinzelten antiken Kunstwerkes,
von welchem Vasari erzählt. Es ist nicht die Imitation der Antike in dem
Einen oder Anderen, die wir bei Niccola bewundern, sondern die veränderte
Totalrichtung, die uns in Staunen setzt. Eine solche läßt sich ohne Vor-
bereitung. ohne Vorstufen nicht denken. Der alte Vasari zeigt uns bereits die
Spuren derselben, denen natürlich auch die Verfasser folgen. Aus den ver-


11*

Mit bewunderungswürdiger Selbstlosigkeit verzichten die Verfasser auf
alle Reize, welche den Eindruck des streng sachlichen Urtheiles stören könnten.
Niemals tritt persönliche Vorliebe oder Abneigung in den Vordergrund, bei
gleich warmem Interesse für alle Künstler niemals eine leidenschaftliche Em¬
pfindung. Als Ausgangspunkt gilt ihnen stets die genaue technische Be¬
schreibung der vorhandenen Werke. Mit anatomischer Schärfe wird.die Zeich¬
nung, die Form der Einzelgestalt, die Weise der Gruppirung, die Farben¬
gebung untersucht, auf dieser Grundlage das Bild und der Meister sorg¬
fältig charakterisirt. Diese Methode, in der classischen Archäologie bekannt¬
lich schon eingebürgert, in der Kunstgeschichte des Mittelalters noch häufig
vermißt, gestattet allein eine vollkommene Sicherheit des Urtheils, gibt
namentlich einen sicheren Anhalt, die Herkunft der einzelnen Werke zu be¬
stimmen. Sie hat sich auch bei Crowe und Cavalcaselle bewährt. Die bessere
Gliederung der Schule Giotto's und die Schilderung dieses Meisters selbst
— die Glanzseite des vorliegenden Bandes — bleibt denselben zu verdanken,
ebenso wäre es auf einem anderen Wege kaum möglich gewesen, in die
Wandgemälde des Pisaner of.mxo Santo Klarheit und Ordnung zu bringen.

Der unmittelbare Gegenstand des „neuen Vasari" ist zunächst die italieni¬
sche Malerei, doch haben die Verfasser, wie bei ihrer Umsicht und Gründlich¬
keit nicht anders zu erwarten war, auch die Plastik in Betracht genommen.
Nach einem kurzen Ueberblick der altchristlichen Malerei, die für den gegebe¬
nen Zweck ausführlich genug erscheint, da die altchristliche Malerei ungleich
näher mit dem classischen Alterthum als mit dem späteren Mittelalter zu¬
sammenhängt, und nach einer kritischen Erörterung der Reste frühmittelalter¬
licher Kunst behandeln die Verfasser die vielfach räthselhafte Sippe der römi¬
schen Cosmaten und die scheinbar plötzliche Erneuerung der italienischen
Kunst durch Niccola Pisano. „Woher kam diese erstaunliche Erscheinung?"
fragen die Verfasser. „Man fühlt sich an Michel Angelo gemahnt und könnte
glauben, daß auch Niccola, einzig in seiner Art und Zeit, wie er war, als ein
schöpferischer Genius anzusehen sei, der mit einem Male die Kunst in Pisa
umgestaltete. Aber selbst Michel Angelo's Werke in all ihrer Hoheit athmen
doch die gleiche Lebensluft mit denen des Ghirlandajo und Donatello. Sind
alle früheren Leistungen, die seine künstlerische Abkunft verdeutlichen könnten,
verschwunden?" Mit Recht verwerfen Crowe und Cavalcaselle die Ableitung
des neuen Stils von dem Studium eines vereinzelten antiken Kunstwerkes,
von welchem Vasari erzählt. Es ist nicht die Imitation der Antike in dem
Einen oder Anderen, die wir bei Niccola bewundern, sondern die veränderte
Totalrichtung, die uns in Staunen setzt. Eine solche läßt sich ohne Vor-
bereitung. ohne Vorstufen nicht denken. Der alte Vasari zeigt uns bereits die
Spuren derselben, denen natürlich auch die Verfasser folgen. Aus den ver-


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[0091] Mit bewunderungswürdiger Selbstlosigkeit verzichten die Verfasser auf alle Reize, welche den Eindruck des streng sachlichen Urtheiles stören könnten. Niemals tritt persönliche Vorliebe oder Abneigung in den Vordergrund, bei gleich warmem Interesse für alle Künstler niemals eine leidenschaftliche Em¬ pfindung. Als Ausgangspunkt gilt ihnen stets die genaue technische Be¬ schreibung der vorhandenen Werke. Mit anatomischer Schärfe wird.die Zeich¬ nung, die Form der Einzelgestalt, die Weise der Gruppirung, die Farben¬ gebung untersucht, auf dieser Grundlage das Bild und der Meister sorg¬ fältig charakterisirt. Diese Methode, in der classischen Archäologie bekannt¬ lich schon eingebürgert, in der Kunstgeschichte des Mittelalters noch häufig vermißt, gestattet allein eine vollkommene Sicherheit des Urtheils, gibt namentlich einen sicheren Anhalt, die Herkunft der einzelnen Werke zu be¬ stimmen. Sie hat sich auch bei Crowe und Cavalcaselle bewährt. Die bessere Gliederung der Schule Giotto's und die Schilderung dieses Meisters selbst — die Glanzseite des vorliegenden Bandes — bleibt denselben zu verdanken, ebenso wäre es auf einem anderen Wege kaum möglich gewesen, in die Wandgemälde des Pisaner of.mxo Santo Klarheit und Ordnung zu bringen. Der unmittelbare Gegenstand des „neuen Vasari" ist zunächst die italieni¬ sche Malerei, doch haben die Verfasser, wie bei ihrer Umsicht und Gründlich¬ keit nicht anders zu erwarten war, auch die Plastik in Betracht genommen. Nach einem kurzen Ueberblick der altchristlichen Malerei, die für den gegebe¬ nen Zweck ausführlich genug erscheint, da die altchristliche Malerei ungleich näher mit dem classischen Alterthum als mit dem späteren Mittelalter zu¬ sammenhängt, und nach einer kritischen Erörterung der Reste frühmittelalter¬ licher Kunst behandeln die Verfasser die vielfach räthselhafte Sippe der römi¬ schen Cosmaten und die scheinbar plötzliche Erneuerung der italienischen Kunst durch Niccola Pisano. „Woher kam diese erstaunliche Erscheinung?" fragen die Verfasser. „Man fühlt sich an Michel Angelo gemahnt und könnte glauben, daß auch Niccola, einzig in seiner Art und Zeit, wie er war, als ein schöpferischer Genius anzusehen sei, der mit einem Male die Kunst in Pisa umgestaltete. Aber selbst Michel Angelo's Werke in all ihrer Hoheit athmen doch die gleiche Lebensluft mit denen des Ghirlandajo und Donatello. Sind alle früheren Leistungen, die seine künstlerische Abkunft verdeutlichen könnten, verschwunden?" Mit Recht verwerfen Crowe und Cavalcaselle die Ableitung des neuen Stils von dem Studium eines vereinzelten antiken Kunstwerkes, von welchem Vasari erzählt. Es ist nicht die Imitation der Antike in dem Einen oder Anderen, die wir bei Niccola bewundern, sondern die veränderte Totalrichtung, die uns in Staunen setzt. Eine solche läßt sich ohne Vor- bereitung. ohne Vorstufen nicht denken. Der alte Vasari zeigt uns bereits die Spuren derselben, denen natürlich auch die Verfasser folgen. Aus den ver- 11*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/91>, abgerufen am 24.07.2024.