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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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krank liegt; sie möchten gern Freiheit haben, sie wissen aber nicht wie sie
dazu kommen sollen!

Alle Parteien rufen nach Frieden: darüber soll man sich im deutschen
Reiche nicht täuschen! Zwar findet das verjüngte Deutschland, speciell
Preußen, keine Sympathien in Frankreich, und das ist begreiflich genug;
aber bis zum Wunsche nach einem Kriege versteigt man sich doch nicht, mit
Ausnahme etwa der Ultramontanen! Die Schwarzröcke haben immer den
richtigen Jnstinct, von welcher Seite her sie etwas zu fürchten haben. Das
Liebäugeln des Univers mit der Kreuzzeitung ist bedeutsam genug. Uebrigens
hat die Art, wie die officiösen preußischen Blätter von den französischen
Wahlen sprachen, hier einen üblen Eindruck gemacht, und in Deutschland
selbst wird er wohl nicht besser gewesen sein. -- Es war wieder eine hohe
Befriedigung für den Pariser, daß "ganz Europa" mit gespanntester Auf¬
merksamkeit die Unruhen der Hauptstadt verfolgte. Und in der That, diese
Unruhen sind eine merkwürdige Erscheinung, ein unaufgelöstes Räthsel. Wir
meinen die der letztvergangenen Woche, seit dem 7. Juni; denn die des
13.--18. Mai waren nur Folgen der Wahlaufregung, und wären trotz
Marseillaise und Lanterne ganz unschuldig geblieben, wenn die unkluge An¬
wesenheit zahlreicher Polizisten nicht erst gereizt, und besonders wenn die
rohe Brutalität derselben nicht die Leidenschaften erhitzt und Alle, auch die
Friedfertigsten, empört hätte. Was schadete denn die arme Marseillaise? Das
Lied, von dessen unglaublich hinreißender Gewalt man sich keinen Begriff
machen kann, wenn man es nicht von Tausenden und Tausenden hat an¬
stimmen hören, das Lied, das die Heere der Republik zum Siege geführt, ist
jetzt polizeiwidrig! Aber tödtet sie auch nur einen Serganten? Brauchten
denn die Banden des Herrn Pietri gleich, ohne vorgehende Sommation,
dreinzuschlagen mit Stühlen, Tischen, ja, wie es unmittelbar neben uns
geschah, den Degen zu ziehen, in Brauereien einzubrechen und da alles zu
zerschlagen was vor ihnen stand, die darin anwesenden Leute auf die Straße
zu werfen, um sie niederstoßen und abführen zu können! Es waren em¬
pörende Scenen, denen wir beigewohnt! Und wer sich damals wehrte erhält
jetzt, nach einmonatlicher Untersuchungshaft, noch einen, zwei, sechs Monate
Gefängniß. Doch wie gesagt, diese Aufregung war nicht von tiefgehender
Bedeutung. Selbstverständlich aber zog die Regierung ihren Nutzen davon;
das bekannte rothe Gespenst wurde wieder einmal aus der Rumpelkammer
der Maires und Präfecten ans Licht gezogen, um den noch schwankenden
Provinzialen einen heilsamen Schrecken einzujagen. In einem Dorfe, fünf¬
zehn Stunden von Paris, wurden wir allen Ernstes am Tage vor den
Wahlen gefragt, ob es wahr sei, daß man sich in Paris schlage und daß


krank liegt; sie möchten gern Freiheit haben, sie wissen aber nicht wie sie
dazu kommen sollen!

Alle Parteien rufen nach Frieden: darüber soll man sich im deutschen
Reiche nicht täuschen! Zwar findet das verjüngte Deutschland, speciell
Preußen, keine Sympathien in Frankreich, und das ist begreiflich genug;
aber bis zum Wunsche nach einem Kriege versteigt man sich doch nicht, mit
Ausnahme etwa der Ultramontanen! Die Schwarzröcke haben immer den
richtigen Jnstinct, von welcher Seite her sie etwas zu fürchten haben. Das
Liebäugeln des Univers mit der Kreuzzeitung ist bedeutsam genug. Uebrigens
hat die Art, wie die officiösen preußischen Blätter von den französischen
Wahlen sprachen, hier einen üblen Eindruck gemacht, und in Deutschland
selbst wird er wohl nicht besser gewesen sein. — Es war wieder eine hohe
Befriedigung für den Pariser, daß „ganz Europa" mit gespanntester Auf¬
merksamkeit die Unruhen der Hauptstadt verfolgte. Und in der That, diese
Unruhen sind eine merkwürdige Erscheinung, ein unaufgelöstes Räthsel. Wir
meinen die der letztvergangenen Woche, seit dem 7. Juni; denn die des
13.—18. Mai waren nur Folgen der Wahlaufregung, und wären trotz
Marseillaise und Lanterne ganz unschuldig geblieben, wenn die unkluge An¬
wesenheit zahlreicher Polizisten nicht erst gereizt, und besonders wenn die
rohe Brutalität derselben nicht die Leidenschaften erhitzt und Alle, auch die
Friedfertigsten, empört hätte. Was schadete denn die arme Marseillaise? Das
Lied, von dessen unglaublich hinreißender Gewalt man sich keinen Begriff
machen kann, wenn man es nicht von Tausenden und Tausenden hat an¬
stimmen hören, das Lied, das die Heere der Republik zum Siege geführt, ist
jetzt polizeiwidrig! Aber tödtet sie auch nur einen Serganten? Brauchten
denn die Banden des Herrn Pietri gleich, ohne vorgehende Sommation,
dreinzuschlagen mit Stühlen, Tischen, ja, wie es unmittelbar neben uns
geschah, den Degen zu ziehen, in Brauereien einzubrechen und da alles zu
zerschlagen was vor ihnen stand, die darin anwesenden Leute auf die Straße
zu werfen, um sie niederstoßen und abführen zu können! Es waren em¬
pörende Scenen, denen wir beigewohnt! Und wer sich damals wehrte erhält
jetzt, nach einmonatlicher Untersuchungshaft, noch einen, zwei, sechs Monate
Gefängniß. Doch wie gesagt, diese Aufregung war nicht von tiefgehender
Bedeutung. Selbstverständlich aber zog die Regierung ihren Nutzen davon;
das bekannte rothe Gespenst wurde wieder einmal aus der Rumpelkammer
der Maires und Präfecten ans Licht gezogen, um den noch schwankenden
Provinzialen einen heilsamen Schrecken einzujagen. In einem Dorfe, fünf¬
zehn Stunden von Paris, wurden wir allen Ernstes am Tage vor den
Wahlen gefragt, ob es wahr sei, daß man sich in Paris schlage und daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/511>, abgerufen am 24.07.2024.